Kategorie: Hintergrund
Wolfgang Kohlhaase, Beruf Drehbuchautor
Der Hintergrundtext widmet sich dem sieben Jahrzehnte umfassenden Schaffen des Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase.
Dass Wolfgang Kohlhaase zu den wichtigsten deutschen Kino-Autoren zählt, steht außer Frage. Die Arbeiten seiner bald 70-jährigen Schaffenszeit offenbaren einen ausgesprochen filmischen Blick. Nicht zufällig wird er in Deutschland in einem Atemzug mit Billie Wilder oder Erich Kästner genannt. Die Verbindung aus genauem Beobachten und szenischer Pointierung macht auch bei Kohlhaase ein wesentliches Moment aus. Dies bedarf gleichermaßen der Abstraktion wie der Konzentration. Die Wirklichkeit dient ihm als Fundgrube für zwischenmenschliche Konstellationen, die durch gestalterische Eleganz in Charakterzeichnung und Handlung oft Modellcharakter erreicht. Bei seinen Geschichten handelt es sich nicht einfach um gekonnt nachgeformte Realität. Wir haben es vielmehr mit komplexen Konstruktionen zu tun. Bewusst wird eine Transformation der Realität in eine eigenständige ästhetische Dimension vorgenommen. Die Kunst Kohlhaases besteht darin, die Stellschrauben seiner Arbeit im Unschärfebereich zu belassen und seine Zuschauer/-innen für eine Filmlänge auf Reisen mitzunehmen. Und manchmal tragen diese Reisen dann dazu bei, dass das Publikum nach dem Kino mit anderen Blicken auf das Leben schaut.
Neorealistische Anfänge
Vielleicht hat der "Kohlhaase-Touch" auch mit dem Umstand zu tun, dass sein Urheber Autodidakt ist. Der Wissensdrang des aus dem Arbeiter-Milieu in Berlin-Adlershof stammenden Autors war enorm. In seiner Jugend er verschlang alles, was gedruckt war. Als Schüler, unmittelbar vor und nach Kriegsende, begann er selbst zu schreiben. Mit 16 wurde er Volontär einer Jugendzeitschrift, für die er Reportagen, Rezensionen und Glossen verfasste. Mit 19 Jahren schuf er sein erstes Zum Inhalt: Drehbuch für einen DEFA-Spielfilm. "Die Störenfriede" (1953) war zwar ein recht belangloser Kinderfilm, für Kohlhaase bedeutete er jedoch den Einstieg in die Welt des Kinos. Schon ein Jahr später folgte "Alarm im Zirkus" , der den Beginn der fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Regisseur Gerhard Klein markiert. Gemeinsam realisierten sie bis 1965 sechs Spielfilme.
Besonders aufschlussreich für jene Phase ist der Film Zum Filmarchiv: "Berlin - Ecke Schönhauser" (1957). Der Titel benennt den wichtigsten Zum Inhalt: Schauplatz: Alle maßgeblichen Zum Inhalt: Szenen sind im alten Ost-Berliner Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg angesiedelt. Hier trifft sich unter dem Viadukt der Hochbahn allabendlich eine Gruppe Jugendlicher. Man hört Musik, tanzt dazu, übt sich im Kräftemessen und Flirten. Als eines Abends aus der Gruppe heraus eine Straßenlaterne zerstört wird, greift die Polizei ein. Die Jugendlichen werden vernommen, dann aber mit ermahnenden Worten wieder entlassen. Der Vorfall führt zur Ausdifferenzierung innerhalb der Gruppe. Während Karl-Heinz als Anstifter des Steinwurfs mehr und mehr sein Heil im Westen und dunklen Geschäften sucht, kommt der junge Arbeiter Dieter ins Grübeln. Er findet seinen Platz im Leben, nicht zuletzt wegen seiner Liebe zu Angela. Anhand des Films lässt sich gut die Arbeitsteilung zwischen Klein und Kohlhaase ablesen. Während der Regisseur mit seiner am Zum Inhalt: Neorealismus geschulten, unverstellten Perspektive einen völlig neuen DEFA-Look schuf, lieferte ihm der weit jüngere Autor dazu die authentischen Dialoge. Doch gerade sein Realitätssinn wurde dem Film zum Verhängnis. Nach anfänglich begeisterter Aufnahme durch Publikum und Kritik stand der Film plötzlich im Fadenkreuz der Kulturfunktionäre, die den Neorealismus als ein für den Sozialismus untaugliches Instrument der Filmgestaltung eingestuften.
Ein Meister des Dialogs
Der Tod Kleins (1970) zwang Kohlhaase zu einer Neuorientierung. Für Konrad Wolf schrieb er das Buch seines autobiografischen Kriegsfilms Zum Filmarchiv: "Ich war 19" (1968). Es folgten drei weitere gemeinsame Projekte. "Solo Sunny" (1980) warf einen überraschenden Blick auf Randbereiche der Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht hier kein Aktivist der sozialistischen Produktion oder einer der sonst obligatorischen "positiven Helden". Mit der Titelheldin Sunny haben wir es vielmehr mit einer eher desillusionierten Schlagersängerin zu tun. Trotz einer Reihe ernüchternder Erfahrungen macht sie einfach weiter und tut das, was sie am besten kann: Sie singt. Sich nicht unterkriegen zu lassen, erscheint fast schon als Sieg.
An der Stoffentwicklung wie an der konkreten Umsetzung hat Kohlhaase, der im Vorspann als Autor und Co-Regisseur genannt wird, großen Anteil. Er recherchierte nicht nur die Hintergründe der Hauptfigur. Er war auch regelmäßig bei den Dreharbeiten dabei - was sonst für Autor/-innen nicht üblich ist. Neben der gewohnt geschmeidigen Verknüpfung von Personen, Situationen und Orten fällt eine Stärke des Autors erneut ins Gewicht: die der Dialogführung. Es gibt wenige DEFA-Filme, in denen sich Rede und Widerrede derart dynamisch aufbauen, ohne je konstruiert zu wirken. Kohlhaase verbindet hier seine Kenntnis der sozialen Milieus höchst effektiv mit der Kunst des Schreibens. Die schnoddrige Anti-Heldin weiß alle Zudringlichkeiten und Demütigungen stets zu parieren. Immer behält sie das letzte Wort.
Erfolge vor und nach der Wende
Nach dem Tod von Konrad Wolf im Jahr 1982 arbeitete Kohlhaase unter anderem mit Frank Beyer und Bernhard Wicki. Unmittelbar nach der Wende versuchte er sich selbst als Regisseur, drehte den autobiografisch intendierten Spielfilm "Inge, April und Mai" . Es blieb bei diesem einen Versuch. Offenbar bedarf der Autor eines Partners/einer Partnerin im Regiestuhl. 2005 ergab sich eine interessante Konstellation mit Andreas Dresen, in der seither drei Spielfilme entstanden. Der erste war - wieder ein Berlin-Film mit Prenzlauer Berg als Handlungsort. 25 Jahre nach "Solo Sunny" hat sich hier ein sozialer Paradigmenwechsel vollzogen. War die einsame Sängerin noch von rastloser Sinnsuche getrieben, so dominieren jetzt Rückzug und Bestandsschutz. Katrin und Nike leben als Nachbarinnen in einem Mietshaus. Als ein Mann in diesen Schutzraum eingelassen wird, schlägt die anfängliche Hoffnung auf Veränderung bald in noch größere Isolation um. In einem Epilog sehen wir das Mietshaus vollständig eingerüstet, offenbar mussten die Frauen ausziehen. Für Außenseiterinnen wie sie bleibt immer weniger Platz im neuen Berlin. Kohlhaase zeigt im Film von Dresen eine weitere Stärke seines szenischen Gestaltungsvermögens. Seine Dreiecksgeschichte benötigt nur wenige Personen und Orte, um vielfältige Individual- und Beziehungsprobleme aufzufächern. Aus dem Lot geratene zwischenmenschliche Zusammenhänge erweisen sich als Gleichnisse auf eine Gesellschaft im permanenten Umbruch.
Ein Autor mit Bodenhaftung
Es ist beeindruckend, mit welcher Sensibilität Kohlhaase es über 70 Jahre hinweg immer wieder vermochte, den gesellschaftlichen Wandel in glaubwürdige Gleichnisse zu übersetzen. Sein Schaffen wird als künstlerische Chronik der deutschen Sozialgeschichte noch die gebührende Wertschätzung erleben. Dabei ist seine frühe und mittlere Werkgeschichte nicht von den Rahmenbedingungen des DDR-Sozialismus zu trennen. Er war bis 1989 nicht gerade als Dissident hervorgetreten, war aber auch kein Opportunist. Obwohl als langjähriges SED-Mitglied mit offiziellen Funktionen betraut und mit staatlichen Ehrungen bedacht, blieb seine Perspektive skeptisch. Er behielt die Bodenhaftung und wusste, wovon er schrieb.
Wie universell wirksam die Methoden seiner künstlerischen Sublimierungen waren und sind, zeigte die Zeit nach 1990. Bis heute versichern sich namhafte Regisseur/-innen seines präzisen Blicks und des Vermögens, aus umfangreichen Stoffen einen jeweils wesentlichen Kern herauszuarbeiten. Ein jüngeres Beispiel dafür ist seine Zum Inhalt: Adaption des Romans "In Zeiten des abnehmenden Lichts" von Eugen Ruge. Aus einer zeitlich und örtlich auf mehr als 400 Seiten weit ausgreifenden Buchvorlage destillierte er für das 2017 von Matti Geschonneck verfilmte Drehbuch einen zentralen Handlungsstrang. In ihm führte er die Geschehnisse ökonomisch und ergreifend zusammen. Wolfgang Kohlhaases Vermögen, mit Stoffen gleichzeitig respektvoll wie kreativ umzugehen, dabei das Essentielle aus ihnen herauszufiltern und in etwas völlig Neues zu verwandeln, sucht seinesgleichen. Von dieser Arbeitsweise wird sich noch viel lernen lassen.