Ich war siebzehn Jahre alt, als ich 1977 das Glück hatte, Wolfgang Kohlhaase kennenzulernen. In einer kleinen Bibliothek in Berlin-Johannisthal las er aus seinem Erzählungsband "Silvester mit Balzac", und ich erlebte, wie jemand aus meiner Berliner Sprache, die auch seine Sprache war, Literatur machte. Ohne die Aura des Provinziellen, ohne Folklore. Ganz im Gegenteil: "Ortszeit ist immer auch Weltzeit", wie er sagte. Um es zu begreifen, traf ich mich mit ihm, fragte ihn, zeigte ihm kleine Geschichten von mir, nahm seine Kritik und Ratschläge begierig auf. Was mir in diesem Zusammenhang erst bekannt wurde: Er war nicht nur Schriftsteller, sondern vor allem ein renommierter Zum Inhalt: Drehbuchautor. Gut, dass die Bibliothek in Johannisthal eine vertrauliche Wohnzimmeratmosphäre gehabt hatte.

Ich lebte in einem warmherzigen proletarischen Elternhaus, ohne jegliche Verbindung zu irgendwelchen Künstlern oder Intellektuellen, aber meine Neugierde ließ mich über den Schatten meiner Schüchternheit springen und den Kontakt zu ihm aufrechterhalten. Einmal erzählte er von seinem Vater, Karl Kohlhaase, Maschinenschlosser. Seine Arbeiterherkunft war gut gegen meine Schüchternheit. Schließlich schrieb ich sogar einen Brief aus dem Armeedienst. Eine furchtbare Zeit. Der Brief gab mir ein bisschen Kraft und die Antwort schon viel mehr als ein bisschen.

Solo Sunny

1980 kam Wolfgangs Spielfilm "Solo Sunny" in die Kinos der DDR, und ich, den Grundwehrdienst gerade hinter mir, konnte es kaum fassen, dass solch ein Film in unserem real existierenden Sozialismus nicht nur entstanden war, sondern auch gezeigt wurde. Dieser kreatürliche Individualitätsanspruch einer jungen Frau, die Sängerin sein will, war alles andere als selbstverständlich in der kollektivistisch geprägten DDR.

Mehrmals las ich das Drehbuch zu "Solo Sunny" und auch weitere Drehbücher von Wolfgang. Alle waren szenische Literatur, eigen, originär. Mit viel Untertext, aus dem sich Assoziationsraum ergibt. Mit dem präzisen Blick auf Figuren und Milieus und die einfachen Geschichten, bei denen die Einfachheit Voraussetzung für Tiefe und Nachklang ist. Auf diese Weise entdeckte ich das Drehbuch als Kunstwerk und die Kunst des Drehbuchschreibens.

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Erzählen, das von der Realität ausgeht

In die Zeit meines Studiums an der Filmhochschule fiel der Spielfilm "Der Aufenthalt" . Ich lud Wolfgang ein, und mehrere Seminargruppen diskutierten mit ihm in einem engen Internatszimmer und abseits des offiziellen Unterrichts. Er war der Mann, der kam, wenn ihn Studenten einluden, und der dafür nicht Dozent oder so etwas sein musste. Wir wussten, dass er mit diesem Film den Regisseur Frank Beyer in die DEFA zurückgeholt hatte, und Wolfgang erzählte es freimütig und unmissverständlich. Frank Beyer, der eine Art Berufsverbot hatte, im Westen arbeitete, während die DEFA seine künstlerische Heimat war.

Wie großartig und schier alterslos "Der Aufenthalt" ist, wurde mir klar, als ich ihn vor drei Jahren wiedersah. In einem schönen, alten Kino in Saas Fee, einem Ort in den Schweizer Bergen, wohin Wolfgang und ich für ein paar Workshops mit Studentinnen und Studenten aus Wien, Zürich und Babelsberg eingeladen worden waren. In diesen Tagen wirkte Wolfgang jünger und jünger, je mehr er über seine Arbeit sprach. Ich erlebte seinen lakonischen, manchmal schelmischen Witz, seine präzise und völlig unprätentiöse analytische Art, auch seine melancholische Sanftheit und seine unverminderte Begeisterungsfähigkeit. Vieles, was er sagte, kannte ich bereits, aber es war schön, all das wieder und neu zu hören.

Es stimmt mich traurig, dass es solcherart Drehbuch-Künstler wie Wolfgang Kohlhaase immer seltener gibt. Die Verhältnisse sind nicht mehr so. Vielleicht kommt Neues. Bestimmt. Das vitale Erzählen, das, von der Realität ausgehend und über den Umweg der Erfindung, zu einer vertiefenden Sicht auf die Realität führt, kann doch eigentlich nie zu Ende sein.

Drehbuch, Ausbildung, eigene Erfahrung

Was kann man in der Drehbuch-Ausbildung tun, um Studentinnen und Studenten zu sich zu führen? In dem Sinne zu konsequentem Schreiben. Oft ist es ja so, dass Erzählkonflikte im Ansatz stecken bleiben, Settings vor Stereotypen strotzen, Figuren schematisiert erscheinen und Handlungen voraussehbar, weil mehr oder weniger am Reißbrett entworfen. Man schaue nur in die Konfektionsmaschine Fernsehen, um zu erkennen, wie das Potenzial von Erzählstoffen nicht ausgeschöpft wird. Aus Bequemlichkeit, aufgrund von Vorgaben und Einschränkungen, aber auch, leider, bedingt durch mangelndes Talent. Da muss Ausbildung, soweit es eben geht, gegensteuern. Aber wie?

Zunächst: Natürlich mit Respekt vor Erzählregeln, die in Jahrhunderten menschlichen Miteinanders gewachsen sind. Aristoteles hat sich seine "Poetik" nicht aus den Fingern gesogen, Syd Fields Übertragung in Form des Drei-Akt-Schemas auf den Mainstream-Film basiert auf umfänglicher und gründlich analysierter Lese-Erfahrung.

Aber diese Regeln sind keine Dogmen. Jeder Erzählstoff muss seine Struktur aus sich selbst heraus aufspüren. Damit kann man schon allerhand Stunden Ausbildung zubringen.

Das Expose: die Architektur eines Stückes

Meist ist es das Exposé, das die Architektur des Stückes aufzeigt: Den Erzählbogen, seine Aufteilung und darin die Dreieinheit von Konflikt, Handlung, Figuren. Bei fast jeder Stoffentwicklung ist das gelungene Exposé die wünschenswerte Strukturzwischenstufe und zugleich schon mal die komprimierte Erzählung des späteren Films. Ein solches Zwischenwerk ist die halbe Miete, das Haus im Rohbau, das Gerüst der künftigen Gestalt. Ich habe Exposés gelesen, die stärker waren als die aus ihnen entstandenen Drehbücher und die entsprechenden Filme; nicht selten aber waren sie nur erweiterte Ideenskizzen, Behauptungstexte, im schlimmsten Falle einfach nur Darlegungen dessen, was erzählt werden soll und dabei nicht mal im Ansatz erzählt wurde. Auf der Grundlage des gelungenen Exposés hingegen ist das Drehbuchschreiben gleichsam die Entfaltung der Fantasie im Einzelnen (die szenischen Angaben, die Dialoge usw.) Selbst bei Filmen, die ohne Drehbuch, vielmehr zum Beispiel durch Improvisation mit den Schauspielern entstanden sind, gab es nach meiner Beobachtung immer eine Strukturzwischenstufe wie Szenenablaufplan, Treatment (Filmerzählung) oder eben Exposé.

Ausschnitt aus dem Drehbuch "Nilowsky" von Torsten Schulz (© Torsten Schulz)

Torsten Schulz

Abenteuer Stoffentwicklung

Jede ernstzunehmende Stoffentwicklung ist ein Abenteuer, das selbst filminteressierten Menschen kaum bis gar nicht bekannt sein dürfte. Meist ersinnt der Autor so etwas wie einen Erzählansatz. Zum Beispiel: A., ein älterer Mann, streitet sich mit B., seiner weitaus jüngeren Frau, verlässt die gemeinsame Wohnung und sieht auf der Straße eine Person, die aussieht wie B., nur älter, so alt wie er. Er will diese Frau ansprechen, doch sie ist plötzlich fort. Er will sie finden, er muss sie finden. Er geht weiter. Und wird nie mehr zurückkommen … Das ist ein Einfall, aber dieser Einfall ist nur ein winziger Teil der Arbeit, die nun beginnt. Und damit beginnt auch die Zusammenarbeit in der Ausbildung. Mindestens solch ein Erzähl-Impuls muss da sein, damit man sich auf den Weg begeben kann.

Auf diesem Weg ist der Dozent oder die Dozentin das Gegenüber für den Studenten oder die Studentin, in der Regel oder auch naheliegender Weise eine Person mit mehr Schreiberfahrung und Schreiberfolg, analytisch-helfend, bisweilen mitfabulierend, ohne den Ehrgeiz zu entwickeln, der Studentin oder dem Studenten etwas oktroyieren zu wollen. Das Gegenüber als feinfühlige Anreger-Instanz. Unter Umständen mit therapeutischen Qualitäten – wenn es darauf ankommt, gemeinsam zu Ursprüngen zu gehen: Wer bist du? Was willst du? Was kannst du? usw.

Zusammengefasst ist dieses Unterfangen nichts Anderes als Initiation und Training. Dementsprechend ist der Kern der Lehre die Werkstatt: Von der Idee zum Exposé. Vom Exposé zum Drehbuch. Die handwerklich basierte Analyse der Zwischenergebnisse (möglichst keine oder nur wenig Diskussion auf der Metaebene). Zusammenarbeit in der Prä-Produktion (in den Rollen Autor/in, Co-Autor/in, Dramaturg/in, Producer/in). Was diese Prä-Produktion betrifft, kann und will und muss ich als Dozent aus meinen eigenen Erfahrungen schöpfen. Sie sind der Fundus, der meiner Lehrmeinung die nötige Authentie verleiht.

Vom Drehbuch zum Film

Ohne die bereits genannten Arbeitspartner in irgendeinen Schatten stellen zu wollen, war und ist für mich der Regisseur oder die Regisseurin der wichtigste Kollaborationspartner. Das Drehbuch als langer Brief an diese Person, die natürlich in der Lage sein muss, dieses autarke Werk aus sich selbst heraus zu verstehen und, selbstredend, zu respektieren. Lesen können – auch das ist schon mal eine sehr nötige Regiefähigkeit. Die wichtigste allerdings besteht darin, das Drehbuch auf die eigene und nur auf diese Art umzusetzen. Das Eigene, das dialektisch aus dem Fremden erwächst. Aus sozusagen dialektischem Respekt vor den Gewerken (nicht nur Regie, sondern auch Kamera, Zum Inhalt: Montage, Schauspiel, Zum Inhalt: Kostüm, Zum Inhalt: Maske usw.) verzichte ich wiederum in meinen Drehbüchern weitestgehend auf entsprechende Beschreibungen von Zum Inhalt: Kamerafahrten, Zum Inhalt: Einstellungsgrößen u.a. Das Drehbuch, so szenisch-literarisch wertvoll es auch sein mag, ist eben immer auch ein Halbprodukt, das der eigenständigen Transformation in ein anderes Medium bedarf.

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Diesen Umstand habe ich bei der Zum Inhalt: Adaption meines eigenen Romans "Boxhagener Platz" besonders zu spüren bekommen. Ich musste mich vom Roman erst grundsätzlich entfernen, ehe das Wagnis der Übertragung ins "System des Films" gelingen konnte. Zum Beispiel: Der Roman lebt nicht unwesentlich von der Ironie des Ich-Erzählers, für die jedoch das Drehbuch als im Prinzip auktoriale Angelegenheit einen anderen Weg finden musste. Das Mittel Zum Inhalt: Voice-Over wäre in diesem Falle zu schlicht und wenig galant gewesen. Der Einfluss des Regisseurs Matti Geschonneck hat mir geholfen, Lösungen zu finden. Letztlich durch seine Zum Inhalt: Inszenierungsarbeit ist der Film leiser und melancholischer geworden als der Roman. Das war nicht nur normal, sondern auch sehr schön.

Initiation und Training – wenn ich das als Kern der Drehbuchlehre angeführt habe, so ist es auch für mich und meine eigene Arbeit das A und O, immer wieder, jedes Mal aufs Neue.

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