Medienpädagogischer Rat ist gefragt, seitdem klar ist, dass auch Kinder und minderjährige Jugendliche die Netflix-Serie Zum Filmarchiv: "Squid Game" schauen, die unter anderem explizite Gewaltszenen enthält. Wie können Eltern und Lehrer/-innen damit angemessen umgehen? kinofenster.de hat darüber mit Christian Exner gesprochen, der als wissenschaftlich-pädagogischer Mitarbeiter im Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum (KJF) arbeitet und dort unter anderem die Website Zum externen Inhalt: kinderfilmwelt.de (öffnet im neuen Tab) redaktionell betreut.

Herr Exner, wie schätzen Sie die Gewaltdarstellung in "Squid Game" im Hinblick auf die Inszenierung und Ästhetik ein?

Bei "Squid Game" sehe ich eine Ikonografie der Gewalt, die Teil einer besonderen cineastischen Erzählkultur ist. Wie bei Gewaltszenen in anderen südkoreanischen Zum Inhalt: Genre-Filmen spritzt regelrecht das Blut. Doch solche Zum Inhalt: Szenen werden nicht direkt ausgeweidet. Kamera und Zum Inhalt: Schnitt huschen darüber hinweg. Das ist ähnlich stilisiert, wie die übertrieben hohe Anzahl von Gegnern, die im jüngsten James-Bond-Film effektvoll im Nahkampf eliminiert werden. Die Unterschiede in der bildlichen Behandlung des Themas "Mord an Menschen" liegt mehr in den symbolischen Nuancen als etwa in grundsätzlichen ethischen Kategorien. Ich habe aber in der Zum Inhalt: Inszenierung von "Squid Game" nicht nur Gewalt gesehen, sondern auch einen Blick in verschärfte soziale Realitäten und einen Bezug zum ökonomischen Druck in modernen Gesellschaften. Es gibt daher die Möglichkeit, den Härtegrad und den Zynismus dieser Erzählung einzubetten in eine Form von gesellschaftspolitischer Kritik.

Welche Altersempfehlung würden Sie aussprechen und warum?

Unabhängig von ihrem Alter würde ich Menschen, die explizite Gewaltdarstellungen nur schwer ertragen, nicht raten, diese Serie zu schauen. Aber wenn man mit den erzählerischen Mitteln spezieller Genres vertraut und davon nicht schockiert ist, können Jugendliche ab 16 Jahren diese Serie schauen. Mit der Genrekompetenz und Seherfahrung eines älteren Jugendlichen kann man diese Serie nicht nur medien-, sondern auch gesellschaftskritisch lesen. Sie hat in meinen Augen ihren kulturellen Stellenwert und kann beim kritisch reflektierten jungen Publikum persönlichkeitsbildend wirken.

Welchen Reiz übt eine Serie wie "Squid Game" auf Kinder und Jugendliche aus?

Die Neugier nach dem Verbotenen ist ein Phänomen des Aufwachsens. Es gibt gute Gründe, dass einem in jungen Jahren gewisse Medien vorbehalten bleiben. Zugleich stimulieren Verbote die Neugier von Kindern und Jugendlichen. Sie wollen sehen, was hinter dieser Schwelle ist, die sie nicht überschreiten dürfen. Im Fall von "Squid Game" gibt es aber auch ein effektives Marketingumfeld, das auch Kinder erreicht. Wenn die Hürden mit Jugendschutzeinstellungen auf den Geräten, die Kinder in den Händen halten, nicht hoch genug sind, dann übertreten sie die Schwelle zu den für sie geheimnisvollen Medienwelten der Erwachsenen.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Verantwortung der Eltern bei Streaming-Angeboten?

Natürlich haben Eltern da eine Verantwortung. Für Medienkonsum in der Öffentlichkeit gibt es klare gesetzliche Vorgaben: An der Kinokasse etwa wird das Alter kontrolliert. Zu Hause gibt es unterschiedliche Situationen. Es gibt sicher in der Mehrheit der Familien die Verabredung, dass Jugendschutzeinstellungen des betreffenden Streamingdiensts beachtet werden müssen. Aber es gibt auch die Situation, dass Kinder allein zu Hause sind und bewusst das falsche Nutzerprofil wählen. Wer seine Voreinstellungen nicht weiter differenziert, macht es seinen Kindern zu leicht. Wenn ein Kind das Schlupfloch gefunden hat, dann schließen sich andere Kinder an, um cool zu wirken, mitreden zu können oder die eigenen Angst- und Ekel-Schwellen zu testen.

Was kann man tun, wenn Kinder oder jüngere Jugendliche diese Schwelle überschritten haben?

Ich hoffe sehr, dass Kinder, die dadurch irritiert, verletzt oder sogar traumatisiert sind, ein Umfeld haben, in dem sie darüber reden können und aufgefangen werden. Ich glaube aber auch, dass filmische Erfahrungen uns manchmal dahin bringen, wo es in unserer Befindlichkeit schmerzhaft wird. Extreme Filmerzählungen und explizite Bilder lösen nicht nur Angst, Ekel, Abwehr und Abscheu aus. Sie verdichten auch unser latentes Unbehagen und unsere Verstörung in symbolischen Formen. Menschliche Abgründe in Bilder zu fassen, ist Teil unserer Erzählkultur und ist auch ein Bedürfnis der Zuschauer/-innen. Dass man Kinder nur fein dosiert damit konfrontieren kann, ist klar. Dass Kinder sich gelegentlich zu viel zumuten, muss man immer auch ein bisschen mitdenken. Die Verarbeitung von Medienerfahrungen braucht Kommunikation, Austausch und ein Umfeld des Vertrauens und der Geborgenheit. Eltern sollten sie stets begleiten und aufmerksame Ansprechpartner/-innen sein, ohne dabei als Kontrollwächter oder Strafgericht aufzutreten.

Die Diskussion hat gezeigt, dass Begriffe wie Altersfreigaben, Alterskennzeichnungen und Altersempfehlungen oft als gleichbedeutend wahrgenommen werden.

Wenn man nach einem schönen Film für einen Familien-Unterhaltungsnachmittag sucht, dann schauen viele irrtümlich auf die Alterskennzeichnung, als ob das ein Prädikatsiegel sei. Die nackten Zahlen ab 6, ab 12 und so weiter geben nur einen groben Orientierungsrahmen. Das sind Leitplanken, aber keine Wegweiser. Altersempfehlungen sind präzise Beschreibungen, in welchem Alter ein Film gut zu verstehen ist, Identifikation ermöglicht, Interesse bei Kindern weckt und sie nicht unter- oder überfordert. Dazu gibt es filmpädagogische Informationsangebote wie etwa unsere Website kinderfilmwelt.de, aber auch Filmfestivals und Filmmagazine. Filmkritiken können ergänzend dazu die letztlich entscheidende Frage beantworten: Ist das ein toller Film oder nicht?

In vielen Medien wurden Hilferufe von Lehrer/-innen zitiert, weil ihre jungen Schüler/-innen "Squid Game" nachgespielt haben - also etwa Kinderspiele mit Bestrafungen wie Ohrfeigen für die Verlierer/-innen. Welche Reaktion ist aus medienpädagogischer Sicht sinnvoll?

Zum einen würde ich sagen: Bitte nicht überreagieren. Wenn Kinder etwas gesehen haben, was sie nicht sehen durften und das wirklich schlecht ertragen konnten, würden sie sich durch Sanktionen und eine ablehnende Reaktion von Erwachsenen zurückgewiesen und alleingelassen fühlen. Das macht es für sie nur schwerer. Und das andere ist: Genau hinschauen. Ich glaube, in aller Regel haben Kinder ihre Hemmungen nicht verloren und verhalten sich natürlich nicht genauso krass, wie sie es in der Serie erlebt haben. Im günstigsten Fall kann es sogar sein, dass Kinder kreativ verarbeiten, was sie medial erlebt haben, indem sie es in ihre Welt zurückholen - in eine Welt des Spiels. Andererseits kann es auch sein, dass sie sich auf fatale Art stimuliert fühlen und aggressiv werden. Bisherige Erfahrungen haben aber gezeigt, dass dies keine unmittelbare Folge des Serienkonsums ist und es passiert auch nicht in dem dramatischen Ausmaß, wie es in manchen journalistischen Berichten suggeriert wird.

Wie ist die öffentliche Diskussion um "Squid Game" einzuordnen?

Die Befürchtung, dass sich mediale Gewaltszenen als Vorbild für reales Verhalten viral verbreiten und dass sie junge Menschen total enthemmen, findet zyklisch immer neue Anlässe. Mal sind es Horrorfilme, dann Computerspiele – nun ist es also eine Kultserie. Man sieht daran, was neu und populär ist. Es ändern sich die Anlässe, aber nicht die Grundproblematik. Kinder und Jugendliche wissen schon sehr früh, zwischen medialen und realen Welten zu unterscheiden. Diese elementare Medienkompetenz dürfen wir den allermeisten von ihnen zutrauen. Wäre es nicht so, dann hätten wir ein echtes Problem mit unseren Erzählkulturen und wären selbst kaum zu sozial verträglichen Erwachsenen herangereift.