21,99 Euro. Im Mai 2021 mussten Interessierte diese Summe bezahlen, wenn sie den Film "Cruella" schon vor dem Kinostart auf Disney+ anschauen wollten. Die Erzfeindin aller Felltiere aus dem Zum Inhalt: Zeichentrick-Klassiker "101 Dalmatiner" (1961) bekommt in dem aufwändig gestalteten Spektakelfilm eine Vorgeschichte. Eigentlich war "Cruella" für einen Kinostart vorgesehen, und zwar für einen großen: 200 Millionen Produktionskosten müssen eingespielt werden. Doch die Pandemie hat alle Kalkulationen durcheinander gebracht. Auch dieser Aspekt schlägt sich in dem saftigen Preis für den "Cruella" -Stream nieder. In den Kinos sind selbst die teuersten Tickets in der Regel um ein Drittel billiger.

Aber nicht nur wegen Corona ändert sich gerade etwas Grundsätzliches im Kinobetrieb. Bisher war relativ klar, dass bei der Auswertung von Filmen das Kino den Vorrang hatte: Hier kamen neue Titel ins Schaufenster, hier entschied sich meist schon der kommerzielle Erfolg, erst später und meist mit einer deutlichen Schutzfrist von einem halben Jahr folgten Pay-TV und DVD-Veröffentlichung, dann das Fernsehen. Die Sprache, die sich in diesem Zusammenhang eingebürgert hat, entspricht den Bedingungen einer knallharten Aufmerksamkeitsökonomie: Filme haben "slots", also kleine Zeitfenster im Kalender, in denen sie "performen" müssen.

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Schlagabtausch der Streaming-Konzerne

Disney ist der größte amerikanische Unterhaltungskonzern. Mit Disney+ hat er nun auch einen eigenen Streamingdienst. Mit Netflix, Amazon Prime und Apple TV liefert er sich einen Wettlauf um Abonnements und Umsätze. Dieser Schlagabtausch hat sich durch den Heimkinoschub in der Pandemie verstärkt, er wäre aber auch so unausweichlich gewesen. Denn es sind die Gesetze des Kapitalismus, die sich in der sogenannten Plattform-Ökonomie durchsetzen: Die enormen Investitionen in Technik und Inhalte können sich nur wenige große Anbieter leisten. So konzentriert sich das Angebot an populären Unterhaltungsfilmen immer mehr unter dem Dach weniger Firmen. Dass Amazon kürzlich das traditionsreiche Filmstudio MGM kaufte, war in diesem Puzzle beinahe schon das letzte Stück. Denn die Kinokultur hat sich damit innerhalb von zwanzig Jahren komplett verändert. So lange erst ist es her, dass die Digitalisierung massenwirksam wurde. Mit massiver Unterstützung der öffentlichen Hand rüsteten die Kinos zügig und flächendeckend auf digitale Projektion um. Noch deutlich jünger sind die Kapazitäten der mobilen Datenübertragung, die es heute erlauben, auch unterwegs auf dem Smartphone einen Zum Inhalt: Blockbuster wie Zum Filmarchiv: "Titanic "(1997) oder (2012) anzuschauen.

Was bedeutet das alles für die Filmbranche in Deutschland? Im Moment herrscht Goldgräberstimmung. Netflix & Co. haben enormen Bedarf an Inhalten. Wer hier gerade eine gute Idee für eine Serie oder einen Mehrteiler hat, hat beste Chancen. Maria Schrader wurde als Regisseurin mit dem Arthouse-Film Zum Filmarchiv: "Vor der Morgenröte" über Stefan Zweig bekannt. Die Türen zu einer internationalen Regiekarriere öffneten sich für sie aber mit Zum Filmarchiv: "Unorthodox "(2020), einer Miniserie auf Netflix. Nun wird sie für das Hollywood-Studio Universal "She Said" drehen, einen Film über Harvey Weinstein und den Beginn der #metoo-Bewegung. Die Grenzen zwischen Kino und Fernsehen, zwischen Filmen und Serien verwischen sich für die Kreativen immer stärker. Sie können nun freier über das passende Format für Geschichten entscheiden.

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Das Publikum sieht sich mit einem riesigen Angebot konfrontiert. Es muss allerdings auch Nachteile in Kauf nehmen, vor allem, wenn es an einer klassischen Filmkultur interessiert ist. Denn die Streaming-Portale setzen stark auf die Gegenwart. Netflix hat in Amerika als DVD-Versand begonnen, die Firma lieferte damals Klassiker beispielsweise von Federico Fellini oder Agnès Varda ins Haus. Heute steht Filmgeschichte auf Netflix dagegen deutlich im Schatten des Gegenwartsfilms. Wer sich für Klassiker interessiert, muss nach versteckten Perlen suchen. Bei Disney ist zwar der Katalog der berühmten Zeichentrickfilme vorrätig, von dem reichen Schatz des Studios Twentieth Century Fox, über den der Konzern auch verfügt, wird jedoch nichts gestreamt. Das Medium für viele historische Höhepunkte des Kinos bleibt vorerst die DVD, wenn man nicht in Reichweite einer Kinemathek lebt. Für die Vermittlung von Filmgeschichte ergibt sich aus dem beständig wachsenden Angebot der Streaming-Dienste eine spannende Herausforderung: Die Algorithmen führen immer zuerst zu aktuellen Angeboten, und es wird neuer Heranführungen bedürfen, um die Bedeutung von Kinoklassikern für die filmkulturelle Bildung heutiger Medienkonsument/-innen aufzuweisen.

Digitale Angebote für Cinephile

Die Übermacht der amerikanischen Streaming-Anbieter hat aber inzwischen auch spannende Reaktionen hervorgerufen. So hat der auf Filmkunst und Arthouse-Filme spezialisierte Streaming-Dienst MUBI mittlerweile eine Größe erreicht, die für die weltweite Auswertung hochwertiger Festivalfilme relevant ist. In Deutschland gibt es mit Sooner ein neues Portal, das aussichtsreich eine Nische zwischen Arthouse und kleineren Formen, zum Beispiel Zum Inhalt: Dokumentarfilmen zu teils sehr speziellen Themen, eröffnet. Diese Angebote setzen bewusst bei den Erfahrungen an, die das Publikum auf Festivals macht, wo man das Kino in seiner ganzen Vielfalt erleben kann. Im Netz herrscht nun eine Art permanentes Festival. Für viele kleinere Filme, die zuvor bei einem Kinostart in direkte Konkurrenz mit James Bond oder Superheld/-innen treten mussten, sind Streaming-Starts eine ökonomisch sinnvollere Form der Auswertung.

Das Pandemiejahr haben Kinobetreiber/-innen, Filmverleiher/-innen und andere Vertreter/-innen der Filmkultur genutzt, um sich mit digitalen Möglichkeiten besser vertraut zu machen. Im Ergebnis dürften gemischte Auswertungen, wie sie zum Beispiel die Initiative Cinemalovers vorsieht, auch nach der Wiedereröffnung der Kinos Bestand haben. Filme können also zugleich im Kino und online starten, oder zu einem Filmstart können digitale Ergänzungen angeboten werden. Gerade im ländlichen Raum, wo viele Orte ohne eigenes Kino auskommen müssen, kann das Publikum auf diese Weise in Kontakt mit Filmkultur bleiben. Nicht nur dort eröffnen die Online-Filmangebote vielfältige neue Möglichkeiten für die Filmbildungsarbeit. Aber auch die dominanten US-amerikanischen Streaming-Dienste werden ihre Veröffentlichungen stärker mit zusätzlichen Angeboten verknüpfen, wie man es zum Beispiel schon an den Marvel-Produkten sehen kann, die große Kinofilme mit VoD-Serien zu einzelnen Figuren flankieren.

Eine neue Chance für den Erlebnisort Kino?

Der Überhang des Filmangebots im Netz wird nicht mehr verschwinden. Da das individuelle Zeitbudget ja nicht erweiterbar ist, zeichnet sich jetzt schon ein Szenario ab, in dem sich Begeisterung über eine Vielzahl von spannenden und auch relevanten Inhalten mit dem Stress verbindet, sich in diesem Angebot zu orientieren. Für das Kino könnte da eine Chance liegen: Es könnte sich paradoxerweise gerade wegen des Booms der digitalen Anbieter wieder als Leitmedium präsentieren. Denn für 21,99 Euro – also für den Zugangspreis zu einem Spitzentitel – werden viele wohl doch das Erlebnis einer großen Leinwand und einer probaten Soundanlage vorziehen. Konzepte wie das Kino unter freiem Himmel, das komfortable Loungekino wie auch in speziellen Fällen das Comeback von Autokinos haben zuletzt die Prioritäten neu in Richtung eines besonderen Kinoerlebnisses gesetzt. In den zurückliegenden Jahren ist das Kinopublikum im Durchschnitt kontinuierlich älter geworden, nun könnte eine neue Generation dieses Erlebnis jenseits von Blockbustern und Popcorn neu entdecken. Kluges Marketing und sinnvolle Strukturförderungen einmal vorausgesetzt. Generell hat das Kino als institutionelle Antithese zum Homeoffice alle Chancen, sich als Ort der Kultur zu behaupten. Naheliegend ist aber auch, dass die gezielte Förderung durch die öffentliche Hand zukünftig noch wichtiger werden dürfte, um die Kinokultur in ihrer Vielfalt zu erhalten.