Kategorie: Hintergrund
Magie und Märchen – Relikte alter Kulturen in der Medienproduktion der Moderne
Jede Generation hat ihre Geister und Zauberer gekannt, jede Kindergeneration hat sich gewünscht, sie zu treffen. Denn mit ihnen kann man sich herausträumen aus der Misere der Alltäglichkeit.
In seinem Film "Hook" (USA 1991) hat Steven Spielberg einen entlarvenden Fehler gemacht. Er schickt Peter Banning, der einmal Peter Pan war und als Erwachsener ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, zurück ins Neverland, um seine Kinder vor dem Piraten mit der Hakenhand zu retten. Aber Neverland heißt eben Nimmerland, weil es nie wieder zurückkehrt. Es ist versunken in der Kindheit, und wer es, wie Spielberg, für Erwachsene nochmals heraufzubeschwören versucht, gerät in Gefahr, einen kindischen Eindruck zu hinterlassen. James Matthew Barrie, der mit seiner Geschichte The Boy who wouldn't Grow Up (1904) die Figur des Peter Pan kreierte, war konsequenter. Er hat seinem Protagonisten das Vergessen der Kindheitsabenteuer geschenkt.
Magie und Aberglaube
In der Kindheit war die Welt voller magischer Wesen. Doch Relikte des magischen Denkens finden sich auch im Erwachsenenalter: Eine Karpfenschuppe in der Geldbörse soll vor Armut bewahren, ein Amulett am Rückspiegel das Auto vor Unfällen schützen, ein Schmuckstein Krankheiten fern halten. So etwas gilt heute als Aberglaube. Doch er ist weit verbreitet. Er bewahrt ein Stück Kindheit im Denken der Erwachsenen. Und er bewahrt ein Detail aus der Kindheitsgeschichte der Menschheit in der Kultur der Moderne.
Mythen und Dämonen
In Mythen und manchen Religionen haben sich die Spuren magischen Denkens aus den frühen Kulturen erhalten. Magisches (animistisches) Denken betrachtet die Erscheinungen der Welt als belebt. In jedem Baum wohnt eine Nymphe, die Dunkelheit ist voller Dämonen, und der Ozean ist ein Gott. Die Zauberwesen aus der Fantasy-Literatur und Fantasy-Filmen haben hier ihren Ursprung. Der Mensch – so das magische Denken – kann seinerseits Einfluss auf die übernatürlichen Wesen nehmen, indem er sie beschwört und ihnen Opfer bringt. So verpflichtet er sie zum Gehorsam und steigert die eigene Macht. Die Wirklichkeitsdeutung der frühen Kulturen beruht auf solchen Projektionen und Analogien, aber für Kinder gilt dieses System noch immer. Im Gegensatz zu Erwachsenen leben sie in einer "ungetrennten Welt", in der nicht die Gesetze der Physik oder Politik gelten. Vielmehr gilt die Allmacht ihrer Vorstellungen. Deshalb können sie ein Stück Holz in jedes vorstellbare Wesen verwandeln. Und nur die Erwachsenen sind sich bewusst, dass dies allein in ihrer Fantasie geschieht.
Das verlorene Paradies
Dabei wissen fast alle Mythen um den Verlust der magischen Welt. Judentum, Christentum und Islam erzählen davon in der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies. Weil sich dahinter aber eine schmerzliche Verlusterfahrung verbirgt, sind wirksame Trostkulturen entwickelt worden. Eine der bekanntesten ist das Märchen. Es erzählt von Ereignissen, die Kindern noch möglich erscheinen, die für Erwachsene allerdings nur märchenhaft sind. Es sind Ereignisse aus "den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat". Mit dieser Formel beginnen die Brüder Grimm ihr Märchen vom Froschkönig, das den ersten Band ihrer Sammlung Kinder- und Hausmärchen (1812) einleitet.
Harry Potters Macht
Eine Welt, in der das Wünschen noch hilft und ein magischer Zauberstab die Welt verändert, beherrscht seit Jahren die Kulturindustrie. Es ist die Welt Harry Potters aus den Romanen Joanne K. Rowlings, ihren Verfilmungen, Spielversionen, Merchandising-Produkten. Der Erfolg dieser Serie belegt, dass die Sehnsüchte nach den Wirkungszusammenhängen des magischen Denkens bis ins 21. Jahrhundert überlebt haben und gestillt werden wollen – wenigstens auf der Ebene des Imaginären. Bei Kindern ist das nachvollziehbar. Doch Harry Potter hat die Echos magischer Allmachtsträume auch bei Erwachsenen ausgelöst. Spielerisch haben sie Bücher und Filme konsumiert.
Im Zauberland Oz
Die magischen Wesen waren nie verschwunden. Jede Generation hat ihre Geister und Zauberer gekannt, jede Kindergeneration hat sich gewünscht, sie zu treffen. Denn mit ihnen kann man sich herausträumen aus der Misere der Alltäglichkeit. Einer der schönsten Kino-Träume dieser Art ist Victor Flemings "Zum Filmarchiv: "Der Zauberer von Oz"" (The Wizard of Oz, USA 1939). Die kleine Dorothy, leidend unter den familiären Verhältnissen, bedroht von einem Wirbelsturm, bekommt die Chance, eine magische Welt zu erobern. Wie bei Harry Potter soll sie dabei das Gute beschützen und das Böse bekämpfen, wobei das Böse stets aus den Helden/innen selbst kommt.
Hexen und Kobolde
Die Kulturproduktion von der Märchenerzählung am Feuer über das Kino bis zur Weltschöpfung aus der Computeranimation hat stets Fantasieentwürfe hervorgebracht, die Kindern zu "realen" Spielgefährten wurden. Pippi Langstrumpf gehört dazu und Pan Tau, große und kleine Hexen, das Sams mit seinen Wunschpunkten im Gesicht und auch E.T., der Außerirdische, der ja nichts anderes ist als eine futuristische Variante der hilfreichen, wenngleich nicht ungefährlichen Gnome, Zwerge, Elfen, Heinzelmännchen mit ihren Fähigkeiten jenseits der physikalischen Gesetze. In jüngster Zeit kamen noch die magischen Freunde, Helfer, ja sogar erotischen Objekte aus den japanischen Mangas und Animes ("Oh My Goddess!, " Aa! Megamisama! The Movie, Hiroaki Gôda, Japan 2000) dazu, die speziell für ein Publikum an der Schwelle von der Kindheit zur Pubertät entwickelt wurden. Und Superhelden wie Superman, Batman oder Spiderman, triviale Ersatzformen der alten Götter, sind auch nicht zu vergessen. Daneben öffnen sich magische Türen zu Parallelwelten der Phantasie in Filmen wie (Andrew Adamson, USA, England 2008) oder Zum Filmarchiv: "Coraline" (Henri Selick, USA 2009).
Magie als Wirtschaftsfaktor
Weil Wünsche so stark sind, kann man mit ihnen gut Geschäfte machen. Magie war seit jeher ein Wirtschaftsfaktor. Priester, Schamanen, Wahrsager ließen und lassen sich ihre speziellen Beziehungen zu Göttern und Geistern bestens bezahlen. Die Esoterik als Vermittlungsagentur zum Irrationalen richtet für ihre Angebote Messen aus und bietet zur späten Uhrzeit ihre Leistungen im Fernsehen an. Und im Unterhaltungssektor ist nicht nur Harry Potter ein Kommerzerfolg. Das Geschäft mit der Magie boomt. Große Medienkonzerne nutzen natürlich ihre vielfältigen Verwertungskanäle wie Kino und Fernsehen, DVD- und CD-Produktionen, um kindliche, juvenile oder erwachsene Träume, Fantasien und Wünsche gewinnbringend zu vermarkten. Noch nie waren Kino, Comics, Computerspiele nur reine Kunst: Sie lassen sich kaufen und verkaufen ihrerseits als Traumfabriken und Illusionsmaschinen Gefühle von Verzauberung und Allmacht. Kinder erleben diese Gefühle gegen Gebühr in einem Zustand der Unschuld. Erwachsene jedoch müssen sich damit abfinden, dass sie das Paradies verloren haben – und bezahlen trotzdem immer wieder gern für seinen schönen Schein.