Jan Steinitz ist Diplompsychologe und Psychologischer Psychotherapeut. Er ist seit 1987 in der stationären, teilstationären und ambulanten Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen tätig, seit 2001 betreibt er eine psychotherapeutische Praxis in Berlin.

Welche Bedeutung haben Kinderbücher für die kindliche Entwicklung?

Bilderbücher haben in erster Linie eine Unterhaltungsfunktion. Wenn sich Kinder aber in den Büchern wiederentdecken und mit den Figuren identifizieren können, dann unterstützen sie darüber hinaus ihre Entwicklung. Sie helfen ihnen, mit Konflikten zurecht zu kommen und daran zu wachsen.

Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak wurde 1967 veröffentlicht. Seit mehr als 40 Jahren stößt dieses Bilderbuch auf unverminderte Resonanz. Warum?

Es ist ein besonderes Buch, weil es Sendak gelingt, verschiedene Schichten der kindlichen Seele in symbolischer Weise wieder zu geben. Und er tut dies auf eine Art, die sowohl Kinder als auch Eltern anspricht. In wenigen Worten und Sätzen wird zunächst ein Konflikt beschrieben, der zwischen Eltern und Kindern im Alltag entstehen kann: Max hat sich daneben benommen und wird bestraft. Darüber ärgert er sich, ist enttäuscht, wütend, hilflos. Dann geht es aber auch darum, wie ein Kind auf einer symbolischen Ebene eine solche Kränkung bewältigen kann. Max gelingt das, indem er sich eine Fantasiewelt kreiert.

Welche Bedeutung hat dabei die Begegnung mit den wilden Kerlen?

Die wilden Kerle repräsentieren einmal die Wildheit von Max, andererseits stellen sie aber auch einen Spiegel seiner Ängste dar, die Bedrohung durch das Unsichere, das Ungewisse der Außenwelt. Solche grauenhaften Monster mit gelben Augen zu zähmen und von ihnen sogar zum König gekrönt zu werden, ist natürlich eine Verwirklichung von Allmachtsfantasien. Im symbolischen Raum macht das durchaus Sinn, weil es die eigene Wertschätzung stärkt und Max mit neuem Selbstbewusstsein nach Hause zurück kehren kann. So sind die verschiedensten Aspekte des kindlichen Seelenlebens in dem Buch wieder zu erkennen. Auch das Hinausgehen in die Welt gehört dazu, er genießt das Abenteuer, will dann aber auch in die Geborgenheit seiner Familie zurückkehren. Dieses Spannungsfeld zwischen Trennung und erneuter Annäherung müssen Kinder ja auch in der Realität aktiv bewältigen.

Wann wird dieser Prozess entwicklungspsychologisch relevant?

Das passiert zum ersten Mal im zweiten Lebensjahr, wenn Kinder laufen lernen und so auch motorisch in der Lage sind, sich von der Mutter zu trennen, eigene Wege zu gehen. Fortgehen und wiederkommen trägt ganz entschieden zur Entwicklung des Selbstbildes und des Selbstvertrauens eines Kindes bei. In der Pubertät wiederholt sich der Prozess: Mit 13 oder 14 Jahren wollen Kinder ihre eigenen Wege gehen, ihre Grenzen austesten. Sie brauchen aber auch den Rückhalt der Familie, um das Bedrohliche und Befremdliche der Außenwelt aushalten zu können. In der Zeit dazwischen tritt diese Art der Auseinandersetzung mit der Welt eher in den Hintergrund.

Nun ist Max ja ein Junge und auch die wilden Kerle sehen – soweit man das von Bilderbuchmonstern behaupten kann – eher männlich aus. Spricht das Thema eher Jungen an?

Spontan würde ich sagen: ja. In der Therapie konnte ich feststellen, dass Jungen häufiger auffällig werden und sich eher mit dem Grenzüberschreitenden identifizieren. Da stellt sich natürlich die Frage, inwiefern das kulturell geprägt ist oder aus inneren Motiven herrührt. Heutzutage sind Jungen ja eher verunsichert. Einerseits identifizieren sie sich mit dem Hinausgehen in die Welt und den wilderen Dingen. Andererseits wird von ihnen aber auch verlangt, dass sie sensibel und verständnisvoll sein sollen und damit einem modernen Männerbild entsprechen. Das macht es ihnen häufig besonders schwer, den Erwartungen der Umwelt gerecht zu werden.

Nun wird Zum Filmarchiv: "Wo die wilden Kerle wohnen" unter dem Motto "In jedem von uns steckt einer" auch als Film für Erwachsene beworben. Rumoren denn die wilden Kerle auch nach der Kindheit noch in uns?

Natürlich trägt auch jeder Erwachsene alles mit sich herum, was er in seiner Kindheit erfahren hat. Insofern ist es ja kein Zufall, dass ein Kinderbuch, das nach 42 Jahren verfilmt wird, auch so viel Aufmerksamkeit in der Erwachsenenwelt auf sich zieht. Denn die Erwachsenen erkennen natürlich ihre Erfahrungen wieder.

Für den Spielfilm wurden Handlung, Dramaturgie und Dialoge von Regisseur Spike Jonze kräftig ausgeschmückt. Inwiefern verändert dies den Deutungsraum des Buchs?

Nun, ich kenne den Film noch nicht. Aber natürlich bleibt beispielsweise bei solch ausgefeilten Dialogen auf der einen Seite weniger Raum für die Fantasiearbeit. Auf der anderen Seite kann ich mir vorstellen, dass in den Film zusätzliche Gesichtspunkte eingebracht wurden und dass natürlich auch die Handlung in die heutige Zeit transportiert wurde. Das Buch ist ja fast ein halbes Jahrhundert alt, heute sind Dinge relevant, die es damals nicht waren. Und vielleicht trägt das Ausschmücken mit dazu bei, aus einer zeitlosen Geschichte einen zeitgemäßen Film zu machen.