Die Drehbuchautorin Annette Hess (u.a. "Weissensee" , "Ku'damm 56" und "Ku'damm 59" ) hat mit einem Team bestehend aus fünf weiteren Autor/-innen die Geschichte von Christiane F. neu erzählt. Im Serienformat sieht sie die Möglichkeit, die Suchtgenese einzelner Figuren genauer zu beleuchten.

kinofenster.de: Frau Hess, wie sind Sie auf die Geschichte von Christiane F. gestoßen?

Annette Hess: Mit etwa zwölf Jahren habe ich das Buch gelesen und das schlug ein wie eine Bombe. Die Bedeutung von Drogen und Sucht wurden bis dato in der Schule und in den Medien nicht thematisiert. Einerseits faszinierte mich die kompromisslose Clique um Christiane F., die sich wagemutig in einer Parallelwelt bewegte. Zugleich wurde mir aber auch das Abgründige und das Gefährliche bewusst, was dazu führte, dass ich auf keinen Fall dazugehören wollte. Trotzdem hatte ich Freunde, die diese Hemmschwelle nicht kannten. Ich bin zwar auf dem Dorf groß geworden, jedoch ist die damit häufig assoziierte Idylle ein Irrglauben. Dort wurden ebenfalls Drogen konsumiert.

kinofenster.de: Hat Sie die Geschichte von Christiane F. all die Jahre begleitet?

Annette Hess: Ja. Dass ich daraus eine Serie entwickelte, liegt der Kinoerfahrung aus dem Jahr 1981 zugrunde. Ich hatte mich sehr auf den Film gefreut und verließ das Kino vollkommen enttäuscht. Aus meiner Sicht wurden wichtige Aspekte, die zur Drogensucht führten, ausgeklammert. Dass die Vorgeschichte nicht thematisiert wurde, hat mich unheimlich geärgert. Vor einigen Jahren setzte der Serien-Boom ein. Ich spürte, dass dies der richtige Zeitpunkt ist, die Geschichte vollständiger zu erzählen.

kinofenster.de: Anders als im Film ist Christianes Vater in der Serie als Figur präsent. Ist er ein Puzzlestück in der Erklärung der Sucht?

Annette Hess: Die Generation von Christianes Eltern war damals vor allem damit beschäftigt, ihr eigenes Leben in den Griff zu bekommen. Deren Eltern haben noch Diktatur, Krieg und Traumata erlebt, darüber wurde aber zu Hause nicht gesprochen. Christianes Eltern durften ihren Eltern keine Fragen stellen, haben es daher nicht gelernt, dass man zu Hause miteinander spricht. Kommunikationslosigkeit und Gewalt-Erfahrungen tragen wesentlich zur Suchtgenese bei. Es ist kein Zufall, dass die Zahl der Süchtigen Ende der 1970er-Jahre förmlich explodiert.

kinofenster.de: Ein anderer Erklärungsversuch für suchtkranke Jugendliche lautet oftmals "Perspektivlosigkeit", die sich aus wirtschaftlichen Faktoren ableitet.

Annette Hess: Damit erklärt sich aber nicht, dass Sucht in unterschiedlichen Milieus gleichermaßen verbreitet ist. In der Serie gibt es mit Babsi ein Mädchen, das aus einem wohlhabenden Künstlerhaushalt stammt. Die Mutter ist jedoch permanent auf Tournee. Die Großmutter ist mit der Erziehung überfordert. Es gibt Druck, aber leider ebenso eine emotionale Leere.

kinofenster.de: Warum haben Sie die Serie gemeinsam mit einem Team von Drehbuchautor/-innen entwickelt?

Annette Hess: Normalerweise arbeite ich allein. Bei der Serie war mir aber auch die Perspektive jüngerer Kolleg/-innen wichtig. Wir waren zu sechst, so konnte jede/-r die Patenschaft für eine jugendliche Figur übernehmen. Konkret sah es so, dass wir uns an mehreren Wochenenden trafen und uns über die Psychologie der Figuren austauschten. Wir haben gemeinsam das Handlungsgerüst entworfen. Die Zum Inhalt: Drehbücher zu den einzelnen Folgen haben wir aufgeteilt.

kinofenster.de: Der Soundtrack der Serie kann mit Dream Pop und Hip-Hop im Hier und Heute verortet werden. War das bewusst von Anfang an so angelegt?

Annette Hess: Dass die Musik aktuell klingt, entwickelte sich im Austausch mit Regisseur Philipp Kadelbach (Glossar: Zum Inhalt: Regie). Eine Serie über Drogensucht in den 1970er-Jahren (Glossar: Zum Inhalt: Dokumentarfilm) zu schreiben, war nicht unser Anliegen. Wir haben auf der Grundlage des Buches eine freie, zeitlose Erzählung gestaltet, auch Figuren und Biografien erfunden. Beim Schreiben der Dialoge haben wir auf damals angesagte Begriffe wie "dufte" oder "astrein" verzichtet. Das Exemplarische der Geschichte war uns wichtig: Wie junge Menschen versuchen, innere Leere und Schmerz durch Drogen zu betäuben. Wir wollten uns auch bewusst von der authentischen Anmutung des Films abgrenzen, wo zum Teil Abhängige ohne ihr Wissen oder Drehgenehmigung im Hintergrund zu sehen sind.

kinofenster.de: Auf der Straße hinter dem Bahnhof Zoo, auf der männliche Prostituierte auf Freier warteten, haben Sie nicht gedreht. Stattdessen wurde eine endlos lange Unterführung gewählt.

Annette Hess: Ein Ort, der nicht Authentizität vermittelt, sondern eher metaphorisch für die Pforte zur Hölle steht. Die Schauplätze (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) und die Zum Inhalt: Musik vermitteln zusammengenommen etwas von einer Zwischenwelt, die historisch nicht genau verortet werden kann.

kinofenster.de: Anders als im Buch und der filmischen Zum Inhalt: Adaption sind die Figuren nicht mehr 13/14 Jahre, sondern etwa 16/17 Jahre alt. Welche Entscheidung steckt dahinter?

Annette Hess: Früher wurden Kinderrollen manchmal skrupellos besetzt. Wir hätten mit einer zu jungen Besetzung bei dem Stoff ein ungutes Gefühl gehabt. Als Kind kann man die Handlung nicht reflektieren. Schaut man sich die Biografien ehemaliger Kinderstars an, die Abstürze durchlitten, kann man unsere Entscheidung leichter nachvollziehen, mit älteren Schauspieler/-innen zu arbeiten.

kinofenster.de: Welche Herausforderung stellte es für Sie als Drehbuchautorin dar, über Rausch zu schreiben?

Annette Hess: Heroin ist keine Droge, die bunte Bilder kreiert. Sie betäubt körperlichen und seelischen Schmerz. Das lässt sich nicht auf die visuelle Ebene übersetzen. Daraus resultierte die Überlegung, dass man den Figuren nicht anmerken sollte, ob sie gerade high oder nüchtern sind. Denn in ihrem Alltag geht das auch permanent ineinander über. Dass es trotzdem surreale Momente gibt, beispielsweise in der Zum Inhalt: Szene, als Babsi eine Wand wegschiebt, hat etwas mit dem Innenleben der Figuren zu tun. Babsi sehnt sich danach, der häuslichen Enge zu entfliehen und direkt in das Nachtleben der Disco Sound einzutauchen.

kinofenster.de: Ist die Problematik des Drogenkonsums aus Ihrer Sicht nach wie vor aktuell?

Annette Hess: Auch wenn die Zahl der Drogentoten lange Zeit sank, wird nach wie vor konsumiert. Heutzutage geschieht das nicht mehr so öffentlich, sondern eher im häuslichen Rahmen. Wahrscheinlich geht es heute auch weniger um das Betäuben als vielmehr um das Optimieren der Leistungsfähigkeit. Es gibt Studierende, die tagelang wach bleiben wollen, um möglichst viel zu lernen. Mir ging es aber nicht darum, eine Serie zu schreiben, die Drogenkonsum propagiert oder verteufelt. Die Ambivalenz, die ich beim Lesen des Buches spürte, soll sich übertragen, denn die ist Vielen vertraut.

kinofenster.de: Was können Jugendliche anhand der Serie lernen?

Annette Hess: Was eine gute Serie leisten kann, ist – etwas prosaisch gesagt – Empathie-Training. Konkret wünsche ich mir, dass die Zuschauenden Mitgefühl für Menschen entwickeln, die nicht perfekt funktionieren, was heißt, die ihr Leben nicht im gesellschaftlich geforderten Sinne auf die Reihe bekommen. Wenn das Verständnis diesen Menschen gegenüber zunimmt, wäre ich sehr glücklich.

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