Die Politik hat die Verantwortung, die Menschen zu schützen. Zu diesem Zweck werden Gesetze und Verordnungen erlassen, denn die Bürger/-innen sind laut Grundgesetz zwar mündig und in ihrem Willen frei, aber viele Entscheidungen, die unseren Alltag betreffen, sind so komplex, dass wir als Einzelpersonen die Konsequenzen oftmals kaum überblicken können. In einer demokratischen Gesellschaft stehen sich Gruppen mit widerstreitenden Interessen gegenüber. Während Gesundheitsorganisationen und Verbraucherschützer die Gesundheit der Bürger bewahren und fördern wollen, sehen sich Unternehmen der Lebensmittelindustrie primär in der Verantwortung gegenüber ihren Gesellschaftern und Aktionären. Es geht ihnen um wirtschaftliches Wachstum und Gewinnmaximierung – die langfristige Gesundheit der Bevölkerung ist nicht ihr Geschäft. Die Politik hat hier eine moderierende und regulierende Funktion.

Die Verantwortung der Verbraucher/-innen

In Deutschland sind heute zwei Drittel der Männer und jede zweite Frau übergewichtig. Vereinte Nationen und WHO weisen darauf hin, dass der „westliche“ Lebensstil und die Gestaltung unserer Umwelt „adipogen“ seien, d.h. Übergewicht und die damit verbundenen Folgekrankheiten Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs fördere. Die Lebensmittelkonzerne argumentieren hier mit der Eigenverantwortung der Bürger/-innen, denn sie erfüllten bereits die gesetzliche Verpflichtung, die Inhalte ihrer Produkte zu deklarieren. Jedes zugelassene Nahrungsmittel sei in Maßen zu genießen und in kleinen Mengen gesundheitlich nicht schädlich. Die Industrie setzt also auf Information, Aufklärung und den „mündigen“ Bürger, der rationale Entscheidungen trifft, gleichzeitig versucht sie jedoch, den Konsum (durch Werbung, Portionsgrößen, Preissignale) zu maximieren. Diese einseitige Verschiebung der Verantwortung auf die Verbraucher/-innen ist eine gängige Methode der Industrie, um von der eigenen Verantwortung abzulenken und strengere Richtlinien und Gesetze zu verhindern.

Kinder sind Werbung ausgeliefert

Voll verzuckert - That Sugar Film (© Universum Film)

Universum Film

Darum setzen sich Gesundheitsorganisationen dafür ein, dass es Menschen leichter gemacht wird, sich gesund zu verhalten. Jeder Mensch – unabhängig von Wohlstand und Bildung – soll die gleiche Chance auf Gesundheit und eine ausgewogene Ernährung haben. Denn wer über wenig Geld verfügt, kauft z.B. eher billige Lebensmittel – und die sind häufiger zu fettig, zu süß oder zu salzig. Besonders Kinder sind gefährdet, denn Geschmacksvorlieben des Menschen werden von klein auf geprägt. Darum will die Bundesregierung das Essen in Kitas und Schulen zukünftig verbessern. Eine andere Möglichkeit wäre ein Verbot von Werbung für ungesunde Lebensmittel. Gerade Kinder sind Werbung schutzlos ausgeliefert, da sie die Mechanismen der Werbung noch nicht verstehen können und sich leicht durch berühmte Vorbilder oder Comicfiguren auf Verpackungen begeistern lassen. Die sozialen Medien sind hier ein zunehmend beliebter Kanal, um solche Werbebotschaften zu verbreiten. Doch Unternehmen treten auch direkt an die Schulen heran, um auf ihre Produkte aufmerksam zu machen. Bereits 2006 veröffentlichte die Pisa-Studie, dass in Deutschland 87 Prozent der 15-Jährigen Schulen besuchen, an denen Unternehmen und Wirtschaftsverbände durch Sponsoring- und Promotion-Aktionen sowie eigens erstellte Unterrichtsmaterialien Einfluss auf Lehrinhalte nehmen.

Desinformation durch Überinformation

Ab Dezember 2016 ist die Nährwertkennzeichnung nach der neuen Lebensmittelinformationsverordnung auf vorverpackten Lebensmitteln verbindlich. Nährwerte plus der Brennwert werden hier nummerisch (in Gramm bzw. kcal/100 g oder 100 ml) angegeben. Die Lebensmittelindustrie hatte bereits früher die sogenannte „GDA-Kennzeichnung“ durchgesetzt. Diese weist zusätzlich aus, wieviel Prozent der empfohlenen Tageszufuhr eines Nährwertes eine Portion liefert. Verbraucherschützer halten diese Angaben jedoch für unverständlich und gezielt verwirrend, dies sei „Desinformation durch Überinformation“. Sie plädieren dagegen für leicht verständliche Symbole auf der Vorderseite der Verpackung wie die sogenannte „Lebensmittelampel“. „Rot“ bedeutet dann beim Zuckergehalt, dass der Verzehr langfristig gesundheitsschädlich ist (zuckerreich), bei „Grün“ ist der Zuckergehalt unbedenklich (wenig Zucker).

Streit um Lebensmittelampel

Seit knapp zehn Jahren ist die Forderung nach einer gesetzlichen Lebensmittelampel (für Zucker, gesättigte Fette, Salz, Kalorien) im Bundestag und im EU-Parlament hart umkämpft. Ärzte- und Verbraucherverbände sowie Krankenversicherungen und die großen Lebensmittelkonzerne versuchen, die Gesetzgebung zu beeinflussen. Interessenverbände beider Seiten arbeiten intensiv daran, dass die gesetzlichen Richtlinien zu ihren Gunsten ausfallen. Im März 2010 wurde die Einführung einer Verbraucherampel vom EU-Parlament abgelehnt, obwohl sich z.B. laut einer Umfrage der Vereinigung Foodwatch zwei Drittel der Verbraucher/-innen für eine Ampelkennzeichnung ausgesprochen hatten. Für das Lobbying zur Verhinderung der Ampel hat die Lebensmittelindustrie rund eine Milliarde Euro ausgegeben. Vertreter der Initiative "Ausgezeichnet informiert", zu der sich die Unternehmen Coca-Cola, Danone, Kellogg, Kraft, Mars, Nestlé, Pepsi und Unilever zusammengeschlossen haben, bezeichnen die Ampelkennzeichnung als eine Bevormundung der Verbraucher/-innen.

Die Tricks der Lobbyisten

Die Initiative "Ausgezeichnet informiert" ist ein gutes Beispiel dafür, wie Lobbyarbeit in der Praxis funktioniert. Die Industrie erklärt sich zu Zugeständnissen bereit („Selbstverpflichtungen“), um ihren „guten Willen“ gegenüber der Politik zu zeigen, damit diese nicht staatlich regulierend eingreift. Die Mitglieder einigten sich in diesem Fall auf die Formulierung, dass eine bewusste Aufnahme von Zucker, Fett und Salz wichtig für eine ausgewogene Ernährung sei. Deshalb boten sie einen Kompromiss an: Die Richtwerte bemessen sich nach dem Nährwertgehalt von „Portionen“. Diese freiwillige Angabe finden wir in Deutschland heute als Empfehlung auf vielen Nahrungsmitteln vor. Doch die Angaben gehen oftmals am Konsumverhalten vorbei. Eine Portion sei keine verbindliche Maßeinheit, kritisieren die Verbraucherschützer/-innen. So werden auf den Verpackungen bewusst unrealistisch kleine Mengen als Portionen angegeben, damit die Werte für Zucker, Fett und Salz in Chips oder einem Riegel Schokolade niedrig erscheinen. Genau an diesem Punkt verweisen die Hersteller immer wieder auf die Eigenverantwortung der Verbraucher/-innen.

Voll verzuckert – That Sugar Film, Szene (© Universum)

Im Lebensmittelbereich gehören zu den führenden Lobby-Organisationen z.B. der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL), der Verein Die Lebensmittelwirtschaft und der Verband der Deutschen Süßwarenhersteller. Auf der anderen Seite stehen eine Vielzahl von gesundheits- und verbraucherschutz-orientierten Organisationen und Verbänden wie der Bundesverband der Verbraucherzentralen, medizinische Fachgesellschaften, z.B. die Deutsche Adipositas-Gesellschaft, Organisationen wie Foodwatch, die Deutsche Diabetes-Hilfe und die Deutsche Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten.

"Zucker ist der neue Tabak"

Von der Vorsitzenden des Ausschusses für Verbraucherschutz im Deutschen Bundestag Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) stammt der Ausspruch: „Zucker ist der neue Tabak“. Der Satz weist zum einen darauf hin, dass Zucker genauso verzichtbar wie Tabak ist. Zucker ist kein essenzieller Nährstoff, der Mensch kann sogar gänzlich auf Zucker verzichten, ohne Mangelerscheinungen zu entwickeln. Was der Körper an Zucker benötigt, kann er aus anderen Stoffen selber herstellen, z.B. aus der Stärke in Brot, Nudeln und Kartoffeln, aus dem körpereigenen Kohlenhydratspeicher (dem Glykogen in der Leber und der Muskulatur) sowie aus „glukogenen“ Eiweißbestandteilen (das sind einige Aminosäuren). Es gibt deshalb auch keine „Zufuhrempfehlung“ für Zucker, wie z.B. für Vitamine und Mineralstoffe, sondern nur Empfehlungen für eine maximale Tagesaufnahme, um die Menschen vor zu viel Zucker zu schützen.

Mit ihrer Aussage wollte Künast aber vor allem darauf hinweisen, dass sich die Zucker-Lobbyisten heute zunehmend der gleichen Methoden bedienen, die man bereits von der Tabakindustrie kennt. Die hat das Wissen, dass Tabak gesundheitsschädlich ist, jahrzehntelang verschwiegen, unterdrückt und geleugnet. Dazu wurden Wissenschaftler für Falschaussagen bestochen, wissenschaftliche Studien manipuliert und vorsätzlich falsch ausgelegt. Seit auch Zucker zunehmend in die Kritik gerät, steht die Ernährungsindustrie ebenfalls unter Druck – und wendet vermehrt undurchsichtige Lobby-Strategien an, um die Gefahren des Zuckerkonsums herunterzuspielen.