Die in Sebastian Schippers "Victoria" behandelten Themen beschäftigen Filmemacher seit der "Erfindung" der Jugendkultur in den 1950er-Jahren. Damit steht "Victoria" in einer langen filmischen Tradition über unverstandene, orientierungslose Jugendliche ohne Zukunftsperspektive, die sich in Alkohol und Drogen flüchten, gegen Autoritäten rebellieren, durchs Leben driften, Mutproben begehen und überschüssige Energien entwickeln, die sie manchmal auch in Konflikt mit dem Gesetz bringen.

Jugendkultur und Wertewandel

Das gesellschaftliche Umfeld der Jugendkultur hat sich generationsbedingt ebenso gewandelt wie ihre Zeichen- und Objektwelt (Kleidung, Statussymbole, Sprache). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Jugendliche überhaupt als ökonomisch relevante Zielgruppe wahrgenommen. Als sich Mitte der 1950er-Jahre grundsätzliche Wertekonflikte zwischen der damaligen Teenager-Generation und der autoritären Gesellschaft der 1950er-Jahre abzeichneten, entstand auch im Kino ein neues Zum Inhalt: Genre: der sogenannte „Juvenile Delinquent“-Film. Im deutschen Kino eroberten zur selben Zeit „Halbstarke“ erstmals die Leinwand.

Victoria, Szene (© Senator)

Behauptung von Authentizität

Nicholas Rays "...denn sie wissen nicht, was sie tun" (USA 1955) lässt sich als Stunde Null des Jugendfilms beschreiben, er wurde sogar zum stilprägenden Faktor der amerikanischen Jugendkultur in den 1950er-Jahren. Der „Juvenile Delinquent“-Film steht prinzipiell auf der Seite der Jugend, die Nähe zur Lebenswelt seiner Protagonisten ist dem Genre praktisch eingeschrieben. Authentizität, also die Behauptung von Wirklichkeitsnähe, ist daher von zentraler Bedeutung. Allerdings wurde Authentizität in der Vergangenheit filmsprachlich ganz unterschiedlich interpretiert und wahrgenommen.

"...denn sie wissen nicht, was sie tun" ist aus heutiger Sicht nur noch schwer als authentisches Jugendporträt zu sehen, so sehr sind der Film und sein Hauptdarsteller James Dean zu kulturellen Ikonen geworden. Dabei verfolgte der Regisseur Nicolas Ray einen explizit realitätsnahen Ansatz, indem er zur Vorbereitung jugendliche Gangs durch Los Angeles begleitete und in den Archiven von Jugendämtern und Polizeistationen recherchierte. Ray erfasste die kulturellen Codes der Dekade (Rock’n’Roll, Lederjacken), doch erzählerisch ist sein Film noch dem klassischen Hollywood-Melodram verpflichtet. Auch die expressive Zum Inhalt: Farbdramaturgie (Deans ikonischer roter Windbreaker) wirkt extrem artifiziell.

Erwachsene Kinder

Ein anderer Wirklichkeitsbegriff liegt Frederico Fellinis "Die Müßiggänger" (Italien 1953) zugrunde, ein Film, der sich der Spätphase des italienischen Neorealismus zurechnen lässt. Die fünf Protagonisten des Films sind, obwohl längst jenseits der 20, Langzeit-Jugendliche, die in Bars, auf den Straßen und am Strand herumhängen und sich von ihren Familien aushalten lassen. „I vitelloni“, so der Originaltitel, bedeutet wörtlich übersetzt „große Kälber“. Die im Jugendfilm charakteristische Opposition zum familiären Umfeld fehlt bei den katholisch sozialisierten „vitelloni“ ebenso wie die Privatsphäre. Der Realismus des Films wird zum einen durch Momente satirischer Überzeichnung gebrochen, zum anderen durch einen lyrischen Tonfall.

Der Rhythmus der Straße

Berlin - Ecke Schönhauser

Berlin - Ecke Schönhauser; Szene (© DEFA Stiftung)

Der DEFA-Film Zum externen Inhalt: Berlin - Ecke Schönhauser (öffnet im neuen Tab) (Gerhard Klein, 1957) teilt mit „Die Müßiggänger“ die stilistische Agenda und die Charakteristika einer Milieustudie, steht gleichzeitig aber – wie sein westdeutsches Pendant "Die Halbstarken" (Georg Tressler, 1956) – in der Nachfolge der US-amerikanischen Vorbilder. Der Krieg wirkt in Kleins Film noch immer nach. Ost-Berlin sieht marode aus, die Elternhäuser sind brüchig (zu Hause schimpfen Kriegswitwen und Stiefväter, die ein schlechter Ersatz sind für die gefallenen Väter), es herrscht ein Mangel an Lehrstellen und Marlon Brando ist nur im West-Berliner Kino zu bestaunen. "Fang neu an, Junge!" – mit diesen Worten endet der Film. Der pädagogische Leitsatz entsprach dabei natürlich auch der sozialistischen Staatsdoktrin.

Flucht in die Drogen

Von den Freiheiten und Möglichkeiten, die der öffentliche Raum in "Berlin - Ecke Schönhauser" bietet, können die Jugendlichen in Jonathan Kaplans "Wut im Bauch" (USA, 1979) nur träumen. In der Retortenstadt New Granada bleibt ihnen nur eine rumpelige Wellblechhütte, die als Freizeitclub dient. Einen Ausbruch aus der erstickenden Langeweile suchen sie in harten Drogen, Alkohol und Vandalismus. Der Film basiert auf wahren Begebenheiten, und tatsächlich wird das Thema später in Form eines Lehrfilms auch im Schulunterricht aufgegriffen. Neben diesen Authentizitätsbeweisen zielt "Wut im Bauch" jedoch auf eine wirklichkeitsübersteigernde Darstellung ab. Oft wird ein Rock- Zum Inhalt: Soundtrack den Bildern unterlegt und glorifiziert ein jugendliches Lebensgefühl, das in kollektiven Intensitäten Erfüllung findet. Wenn sich die Wut der Jugendlichen am Schluss in einer Zerstörungsorgie entlädt, bleibt die Haltung des Films komplizenhaft.

Ästhtetik der Überschreitung

Bande de filles

Peripher

Vermeintlich ganz auf Augenhöhe blickt auch der Fotograf und Regisseur Larry Clark auf seine jugendlichen Protagonisten. "Kids" (USA 1995) ist ein rohes Porträt der Jugendkultur der 1990er-Jahre mit stark dokumentarischen Zügen. Der Film zeigt die ausnahmslos von Laien verkörperten Darsteller beim Skateboarden, beim Musikhören, beim Drogenkonsum, beim Sex und beim Reden über Sex. Die Kamera kommt ihnen dabei oftmals sehr nahe, sie zeigt gerötete Haut und picklige Gesichter, die von Hollywoodstandards entfernter kaum sein könnten. Der Geist der Rebellion – und auch die Ästhtetik der Überschreitung – ist bei den "Kids" jedoch einem dumpfen Hedonismus und einer grausamen Gleichgültigkeit gewichen.

Suche nach Rollenmodellen

Einem solchen der Alltagswelt verpflichteten Realismus stellt Céline Sciamma in Zum externen Inhalt: Bande de filles (öffnet im neuen Tab) (Frankreich, 2014) eine extrem stilisierte Darstellung der Lebenswelt einer Gruppe heranwachsender Mädchen in einer Pariser Banlieu entgegen. Präzise Zum Inhalt: Plansequenzen im Wechsel mit statischen Einstellungen, ein nuanciertes Farbkonzept und ein für den Jugendfilm eher untypisches Zum Inhalt: Cinemascope-Format widersprechen den medial verbreiteten Bildern über Jugendliche in Problembezirken. Die Regisseurin stellt die Solidarität der Mädchen in den Vordergrund, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl und die Schönheit ihrer Rituale und Posen. Die Rollen, die die Mädchen dabei ausprobieren, sind Experimente in jugendlicher Selbstfindung: als große Schwester, beste Freundin, Liebhaberin, Rebellin und sozial Ausgegrenzte. Auch ohne den Einsatz einer dynamischen Zum Inhalt: Handkamera kommt "Bande de Filles" dabei ihrer Lebenswelt nahe.