Im Oktoberheft der englischen Philosophiezeitschrift "Mind" erschien 1950 ein 28 Seiten langer Artikel mit dem Titel "Computing Machinery and Intelligence", was man etwa mit "Rechentechnik und Verstand" übersetzen könnte. Der Artikel ging der Frage nach, wie sich die geistige Fähigkeit einer Maschine ermitteln lässt, und schlug dafür einen Test, das "Imitationsspiel", vor. Falls die Maschine im Dialog mit einem Prüfer erfolgreich einen Menschen vortäuscht, so Turings Behauptung, müsste man ihr in einem gewissen Maße die Fähigkeit zum Denken zubilligen. Das Besondere am „Mind“-Artikel ist, dass er weder von einem Philosophen noch von einem Psychologen verfasst worden war, sondern von einem Mathematiker – und dazu einem ausgewiesenen Experten für Geräte, die wir heute Computer nennen: Alan Turing. Das Spiel ist heute bekannt unter dem Namen Turing-Test, sein Prinzip findet auch im sogenannten CAPTCHA-Test (Completely Automated Public Turing Test to Tell Computers and Humans Apart) Anwendung, der im Internet als Spamfilter eingesetzt wird.

Europäische Philosophietradition

Turings Name wurde in den vergangenen 60 Jahren auch mit anderen Konzepten in Verbindung gebracht, allen voran der Turing-Maschine. Turing war ein interdisziplinärer Denker, er konnte Erkenntnisse aus einem Fachgebiet problemlos auf ein anderes übertragen und gelangte auf diese Weise immer wieder zu neuen, bahnbrechenden Erkenntnissen. "Computing Machinery and Intelligence" etwa gilt heute als ein Grundlagentext zum Thema künstliche Intelligenz, jenem großen Teilgebiet der Informatik, das erst 1956 auf einer Konferenz in den USA eingeführt wurde. Turing nahm mit seinen Überlegungen zum "Imitationsspiel" bereits in den 1940er-Jahren grundlegende Ideen vorweg. Die Prämisse des Imitationsspiels unterschied sich deutlich von der europäischen Philosophietradition, die das Geistige im Kopf verortete. Turing betrachtete Denken als ein Phänomen, das sich „von außen“ an einem Menschen und seinem Verhalten ablesen lässt. Seine unkonventionelle Sichtweise führte Turing zu ungewöhnlichen Lösungswegen, die andere Mathematiker und Philosophen zuvor außer Acht ließen.

Alan Turing (© Heinz Nixdorf MuseumsForum)

Turing hatte in den 1930er-Jahren an der Universität Cambridge Mathematik studiert, besonders interessierte ihn jedoch die mathematische Logik. Während sich Arithmetik und Geometrie mit Zahlen und Größen beziehungsweise Figuren und Räumen befassen, geht es in der Logik, vereinfacht gesagt, um Aussagen und ihre Verknüpfungen. Die Logik ist abstrakter und "reiner" als die Mathematik, ohne deren Formeln Wissenschaftler und Techniker nicht arbeiten könnten. In einigen Wissensgebieten – etwa der Mathematik oder der Kryptologie, der Wissenschaft der geheimen Botschaften und ihrer Entschlüsselung – ist Logik unverzichtbar.

Was ist Rechnen?

Zur mathematischen Grundlagenforschung zählt Turings bis heute bedeutendster Aufsatz "On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem" aus dem Jahr 1936. In dem Text ging er der Frage nach, wie sich der Vorgang des Berechnens oder Ausrechnens exakt definieren lässt. Intuitiv würde man sagen: Es gibt eine Formel oder eine Folge von Anweisungen, auch Algorithmus genannt, in die man Startwerte einsetzt, aus denen sich nach den Regeln der Arithmetik ein Schlusswert ermitteln lässt. Also: 1 + 1 = 2. Doch Logiker mögen es genau. Seinem unkonventionellen Vorgehen getreu erfand Alan Turing nun keine neue Vorschrift, was Rechnen ist oder sein soll, sondern eine Maschine als Modell für die verschiedenen Aktionen, die bei einem bestimmten Rechenvorgang stattfinden.

Modell eines frühen Computers

Dieses Gerät, das er "a-machine" nannte, war eine theoretische Konstruktion, dennoch hatte Turing höchstwahrscheinlich eine mechanische Ausführung vor Augen. Die "a-machine" war die Grundlage der universellen Turing-Maschine, mit der Turing dann das im Titel erwähnte Entscheidungsproblem der Logik löste. Vereinfacht gesagt, drückt sich darin die Frage aus, ob bestimmte sprachliche oder mathematische Aussagen als allgemeingültig (das heißt, als grundsätzlich wahr) zu klassifizieren sind. Auf dieser Grundlage entwickelte Turing das Modell einer Maschine, die Befehle schrittweise abarbeitet und Jahre vor den ersten lauffähigen Elektronenrechnern das abstrakte Modell eines Computers darstellte: Das Band der "a-machine" entspricht dem Speicher, der sowohl das Programm als auch die zahlenmäßigen Eingaben enthält. Die restliche Maschine dient als Rechen- und Steuerwerk.

Künstliche Intelligenz

Turings Rolle bei der Analyse der deutschen Chiffriermaschine Enigma im Zweiten Weltkrieg wurde erst in den 1970er-Jahren bekannt. Hier arbeitete Turing an der Entwicklung eines elektrischen Spezialrechners, der "Turing-Bombe", die Einstellungen der Enigma simulierte. Die Grundidee des Rechners hatte er von einem Team polnischer Kryptologen übernommen. Neu und typisch für Turing aber war sein Ansatz, die "Bombe" auf deutsche Worte anzusetzen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in den durch die Enigma verschlüsselten Funksprüchen erscheinen. Nach 1945 arbeitete er in London an der Entwicklung eines Elektronenrechners, der "Automatic Computing Engine" (ACE). Hierauf gründet sich ein Großteil seines Ruhms als Vordenker des Computers, jedoch konnte er seine Konzepte nur zu einem geringen Teil umsetzen und verließ das Projekt vorzeitig. 1948 übernahm er eine Dozentenstelle an der Universität Manchester.

In jener Zeit beschäftigte sich Alan Turing im Wesentlichen mit dem Problem der künstlichen Intelligenz. Er war der Erste, der die schon früh benutzten Begriffe „Denkmaschinen“ und "Elektronengehirne" mit Inhalten füllte, etwa im Aufsatz "Intelligent Machinery" von 1948. Hier nahm er die Idee neuronaler Netze vorweg. In Rechenanlagen sah er eine Entsprechung zu Gehirnzellen und die sie verknüpfenden Nervenfasern. Von dem neurologischen Ansatz blieb in seinem zwei Jahre später erschienen Beitrag zum Imitationsspiel allerdings nichts mehr übrig. Turings Hypothese, dass Maschinen denken können, fand jedoch rasch praktische Anwendung: In Manchester schrieb er eines der ersten Schachprogramme. Von 1952 an beschäftigte sich Turing vor allem mit Biologie und der Strukturbildung von Zellen. Dabei ging er von der Annahme aus, dass selbst hochkomplexe und auf den ersten Blick diffuse Prozesse durch mathematische Formeln beschrieben werden können, da sie Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Sein wichtigster Text zu diesem Thema ist "The Chemical Basis of Morphogenesis" von 1952. Dort zeigte er, wie das Zusammenwirken zweier Substanzen, eines "Aktivators" und eines "Inhibitors", nach mathematischen Regeln zu regelmäßigen Mustern und Ausprägungen führt. Heute nennt man einen solchen Vorgang Turing-Mechanismus.

Vater des Computers

Betrachtet man seine Ideen und deren Wirkung auf die Nachwelt, so übte die Turing-Maschine vermutlich den größten Einfluss auf. Mit ihr schuf er fast im Alleingang ein eigenes Teilgebiet von Informatik und Logik: die Theorie der Berechenbarkeit. Die universelle Turing-Maschine macht ihn neben Konrad Zuse, John von Neumann sowie den Amerikanern John Presper Eckert und John William Mauchly zu einem der Väter des Computers, auch wenn sein direkter Einfluss auf die Hardwareentwicklung gering war. Turing hinterließ der Nachwelt eine Fülle von Ideen zur Logik, Mathematik, Informatik und Biologie. Sein Erbe sind die Fragen, die er stellte. Und die Probleme, die es noch zu lösen gilt.