Christian Lammert wurde an der Goethe-Universität in Frankfurt in Politikwissenschaften promoviert und ist seit mehreren Jahren Professor für die politischen Systeme Nordamerikas am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Gesundheits- und Sozialpolitik sowie Fragen ökonomischer Ungleichheit und deren Folgen für die Qualität von Demokratie in Nordamerika und Europa. Jüngst hat er im Aufbau-Verlag zusammen mit Boris Vormann ein Buch mit dem Titel "Die Krise der Demokratie und wie wir sie überwinden können" publiziert.

Der zentrale Zum Inhalt: Handlungsort in Zum Filmarchiv: "The Florida Project" ist ein Motel. Welche Rolle nimmt diese Form der Unterkunft in den USA ein?

In den USA spielen soziale und geografische Mobilität eine große Rolle, sie sind ein Element des "American Dream". In allen Städten gibt es entlang der Ausfallstraßen Motels, in denen nicht nur Touristen unterkommen, sondern auch viele Geschäftsreisende. Seit den 1980er-Jahren gibt es aber den Trend, dass diese Motels auch für sozial Bedürftige genutzt werden. Einige kratzen ihr letztes Geld zusammen, weil der Wohnungsmarkt immer teurer wird und sich viele, die in den unteren Einkommensschichten angesiedelt sind, keine Wohnung mehr leisten können. Andere erhalten vom Staat Gutscheine als Transferleistung, die sie in Motels zum Wohnen einlösen können. Dann sind sie berechtigt, 21 Tage in einem Motel unterzukommen. Die Obdachlosenunterkünfte sind in vielen Regionen aufgrund der hohen Mieten und Wohnungspreise völlig überfüllt. Alleinstehende Mütter werden bevorzugt in Motels untergebracht. Das sieht die Regierung jedoch nur als temporäre Lösung an, was im Film deutlich wird, als Halley mit ihrer Tochter offiziell auszieht, aber letztlich nur das Zimmer wechselt. Ein dauerhaftes Wohnen in Motels ist gesetzlich nicht vorgesehen. Man sieht es im Film auch daran, dass es nur einen maroden Spielplatz und keine Infrastruktur für Kinder gibt. Vor einigen Jahrzehnten konnte sich niemand vorstellen, dass Familien an solchen Orten dauerhaft verbleiben.

Die junge Mutter Halley ist seit einiger Zeit arbeitslos. Welche Leistungen sind in diesem Fall in den USA üblich? Die junge Mutter Halley ist seit einiger Zeit arbeitslos. Welche Leistungen sind in diesem Fall in den USA üblich?

Wer in den USA seinen Job verliert, hat Anspruch auf Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung. Die monatliche Summe ist aber deutlich geringer als hierzulande. In den meisten Bundesstaaten ist die Zahlung von Arbeitslosengeld auf 16 Wochen begrenzt. Die Ursache dafür ist, dass Langzeitarbeitslosigkeit in den USA ein unbekanntes Phänomen war. Das liegt primär am deregulierten Arbeitsmarkt. In Gegensatz zur Deutschland existiert in den USA kein genereller Kündigungsschutz. Arbeitgeber können ihre Angestellten ohne Angabe von Gründen kündigen. Insgesamt ist der Arbeitnehmerschutz in den USA weit aus geringer ausgeprägt als hierzulande. Umgekehrt finden Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen schnell wieder einen Job. Diese Flexibilität funktioniert seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr. Seitdem sind auch die USA mit Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert. Die Obama-Administration reagierte darauf 2010, indem der Bezug von Arbeitslosengeld übergangsweise auf 99 Wochen erhöht wurde. Diese Maßnahme ist jedoch inzwischen ausgelaufen und es gelten wieder die alten Regularien. Ein zweites Problem in den USA ist, dass zahlreiche Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor gelandet sind. Das ist auch in "The Florida Project" zu sehen. Obwohl Familien über ein regelmäßiges Einkommen verfügen, liegen manche von ihnen unter der Armutsgrenze und leben deswegen ebenfalls im Motel.

Offiziell existiert in den USA seit 1938 ein Mindestlohn. Wie ist dieser mit dem Niedriglohnsektor vereinbar?

Es erhalten nicht alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen den Mindestlohn. Flächendeckend ist er lediglich für den öffentlichen Dienst eingeführt worden sowie in Firmen, in denen eine bestimmte Anzahl von Vollzeitkräften beschäftigt ist. Der Burger-Laden in "The Florida Project" beispielsweise ist nicht verpflichtet, den Mindestlohn zu zahlen. Auch bei Teilzeitkräften greift er nicht. Deswegen wird auch die Anzahl der "working poor" in den USA immer größer. Obwohl diese Menschen ein oder zwei Jobs haben und acht bis zehn Stunden täglich arbeiten, bleiben sie unter der Armutsgrenze. "The Florida Project" spielt in der Nähe von Disney World. Am Ende flüchten die Kinder dorthin. Viele der Angestellten des Themenparks leben mittlerweile selbst in Motels, weil sie sich reguläre Wohnungen von ihrem Gehalt nicht leisten können.

Der sogenannte American Dream lebt doch aber vom Bild der sozialen Durchlässigkeit. Wer sich anstrengt, wird belohnt.

Eine Vielzahl von Studien haben bewiesen, dass die soziale Mobilität – vom Tellerwäscher zum Millionär – eher Traum als Realität war. In den letzten 20, 30 Jahren sind die Ansätze der sozialen Mobilität quasi komplett eingefroren. Die individuelle Zukunft ist somit maßgeblich davon bestimmt, in welche Familie man hineingeboren wird. Bei den Kinderfiguren in "The Florida Project" ist somit die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie ihr gesamtes Leben in prekären Verhältnissen verbringen werden.

Was passiert, wenn die Arbeitslosenunterstützung ausgelaufen ist? Gibt es dann Sozialhilfe?

Wer nach Ablauf der 16 Wochen keinen Job hat, erhält nur fragmentiert Hilfe. Eine Grundsicherung gibt es nicht, bestenfalls "housing assistance", Zuschüsse zum Wohnen. Einige Wohlfahrtsprogramme erfolgen nur einen kurzen Zeitraum lang. Dafür werden aber auch Gegenleistungen erwartet. Man muss arbeiten, beispielsweise den Park reinigen. Darüberhinaus werden "food stamps" ausgegeben. Diese Nahrungsmittelmarken können in Supermärkten eingelöst werden.

Neben staatlicher Hilfe gibt es private Initiativen, um Bedürftige zu unterstützen. Der von William Dafoe gespielte Motel-Verwalter Bobby hilft Halley und Moonee mehrfach – ein realistisches Bild?

Da in den USA Wohlfahrtsprogramme historisch äußerst begrenzt sind, kommt der "charity" eine gewichtige Rolle zu. Hilfe und Spenden werden privat organisiert. Bobby hält einerseits das Hotel instand, aber ebenso kümmert er sich um die Menschen, die in prekären Verhältnissen leben. Das ist in den USA gesellschaftlich sehr angesehen.

Inwieweit zeichnet "The Florida Project" ein realistisches Bild von Armut in den USA?

Eine Untersuchung förderte kürzlich zutage, dass in den USA gegenwärtig mehr als 5,5 Millionen Menschen mit weniger als vier Dollar am Tag auskommen müssen. Das bezeichnet man als extreme Armut. Diese Menschen sind gar nicht mehr an den Arbeitsmarkt angekoppelt, sie werden als "disconnected people" bezeichnet. Sie erhalten weder Arbeit noch Sozial- oder Wohlfahrtsleistungen, weil sie möglichweise ihr Jahreskonto innerhalb des Wohlfahrtsprogramms "temporary assistance for needy families" aufgebraucht haben, das in den 1990er-Jahren eingeführt wurde. Möglichweise sind sie auch nicht mehr qualifiziert genug, weil sie einfach schon zu lange arbeits- und/oder obdachlos sind. Diesen Menschen geht es ungleich schlechter als den Figuren in "The Florida Project" .