Kategorie: Hintergrund
Propheten der Krise
Die ambivalente Moral in The Big Short
Die Protagonisten in "The Big Short" sind Insider im Bankensektor und zugleich Außenseiter. Unsere Figurenanalyse erklärt die Motivation für ihr Handeln und warum sie im Film dennoch als Identifikationsfiguren fungieren.
Regisseur Adam McKay zeichnet mit seinem Film "The Big Short" eine ökonomische Katastrophe nach, die Millionen von Menschen in Armut und Obdachlosigkeit trieb, während die handelnden Personen in den Chefetagen der Finanzwelt nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Dieser Widerspruch stellt die Figurenzeichnung des Films vor eine Herausforderung. "The Big Short" erzählt aus der Perspektive derjenigen, die den Zusammenbruch des Finanzsystems herbeigeführt haben. Der Film muss ein interessantes moralisches Dilemma auflösen, weil er eine Insiderposition einnimmt, also die Motivation der Figuren zu erklären versucht, ohne ihre Motive zu entschuldigen. Sie agieren nach den Regeln des Marktes. "The Big Short" muss das Verhältnis zwischen individuellem Gewinnstreben und gesellschaftlicher Verantwortung austarieren.
Eine Gruppe Außenseiter
Im Mittelpunkt stehen einige Finanzarbeiter, die gegenüber dem Rest des Finanzwelt-Personals einen Wissensvorsprung haben. Michael Burry (Christian Bale), Jared Vennett (Ryan Gosling), Mark Baum (Steve Carell) und Ben Rickert (Brad Pitt) erkennen den Crash frühzeitig, sie werden zu Propheten der Krise – wobei jeder von ihnen eine eigene Agenda verfolgt. Der Film zeichnet sie dennoch als Identifikationsfiguren, weil sie innerhalb der Banken- und Finanzwelt Außenseiter sind. Zentrale Figur des Films ist der ehemalige Neurologe Michael Burry, ein Hedgefonds-Manager. Ihm fällt als Erstem auf, dass an den Anleihen, die den Handel mit Hypotheken boomen lassen, etwas faul ist. Mit diesem Wissen steht er in der Hierarchie der Außenseiter an der Spitze. Dementsprechend unangepasst wird er charakterisiert. Burry trägt T-Shirt und Shorts, sitzt barfuß im Büro und hört während der Arbeit Death Metal. Er passt weder äußerlich noch sozial in die Welt, die er zugleich am besten versteht.
Einäugiger unter Blinden
Burry leidet am Asperger-Syndrom und die Krankheit begründet seine besonderen Fähigkeiten: Weil er seine Umwelt anders wahrnimmt als seine Mitmenschen, entdeckt er in den Tausenden von Kreditbündeln, die die Banken als profitable Anleihen verkaufen, etwas, was seine Vorgesetzten übersehen (wollen). Dass der echte Michael Burry zudem ein Glasauge trägt, ist eine Metapher, die der Film dankbar aufnimmt: Er ist der Einäugige unter den Blinden. Und noch ein weiterer Fakt unterstreicht seine hervorgehobene Stellung: Als einziger Protagonist trägt er den bürgerlichen Namen der Person, die für ihn Vorbild war. Michael Burry steht dem System so distanziert und souverän gegenüber, dass er mit seinem echten Namen bürgen kann.
Rädchen im Getriebe
Jared Vennett, inspiriert von dem Deutsche-Bank-Trader Greg Lippmann, agiert smarter als Burry. Er sieht aus wie ein Rädchen im Getriebe, ist sonnengebräunt, trägt Anzug und Gelfrisur. Anders als Burry verzweifelt er für einen kurzen Moment sogar an der Erkenntnis, dass das System, in dem er sich bewegt, kollabieren wird. Vennett ist der durchschnittlichste unter den vier Hauptcharakteren, aber auch der mit dem klarsten Beuteschema: He is in it for the money. Indem er die Rolle des Ich-Erzählers annimmt, fungiert er als Vertrauensperson des Publikums: ein lakonischer Vermittler der mitunter komplizierten Begriffe und Vorgänge, die das Finanzsystem in die Krise führten. Doch seine joviale Integrität ist ein Trugbild, weil Vennett wie die anderen Protagonisten am Ende vom Crash profitiert.
Vertreter der alten Schule
Die renitenteste Figur im Film ist der Choleriker Mark Baum, der auf dem Hedgefonds-Manager Steve Eisman beruht. Im Streit um ein Taxi schlägt er einen anderen Anzugträger in die Flucht, seine Selbsthilfegruppe dominiert er lauthals mit seinen Geschichten. Baum lässt sich von Hierarchien nicht beeindrucken und hat deshalb auch keine Probleme damit, den Vortrag eines Finanzexperten mit "lästigen" Zwischenfragen zu stören. Im Vergleich zum smarten Vennett repräsentiert Baum noch "die alte Schule". Als er und sein Team in Florida zwei junge Banker ausfindig machen, die offen ihre zweifelhaften Verkaufspraktiken ausplaudern, nimmt er einen Mitarbeiter beiseite und fragt entgeistert, warum die beiden bereitwillig ein Geständnis ablegen. "Sie gestehen nicht", lautet die Antwort. "Sie prahlen."
Der vierte Außenseiter im Film fungiert als Mentor für zwei Börsen-Newcomer aus der Provinz. Der paranoide Ex-Trader Ben Rickert basiert auf dem Wertpapierhändler Ben Hockett und tritt gewissermaßen als Zwillingsfigur zu Burry auf. Er verhält sich gegenüber dem System ebenso distanziert – seit seinem Rückzug aus dem Tradergeschäft baut er Gemüse an und predigt Saatgut als Spekulationsobjekt der Zukunft –, verspricht seinen Schützlingen aber, sein Wissen mit ihnen zu teilen. Die entscheidende Transaktion nimmt er in einer schottischen Kneipe am Laptop vor. Rickert ist ein Konvertit, seine Indifferenz gegenüber dem Finanzwesen hat ihn zu einem anderen, weniger stressigen Lebensmodell geführt. Der New-Age-Banker spricht mit leiser Stimme, gibt sich entspannt. Seine kalifornische Esoterik lässt ihn über den Dingen schweben.
Profitieren vom kaputten System
Ihr Außenseiter-Status lässt die vier zentralen Charaktere die längste Zeit sympathisch erscheinen, obwohl ihre Moral fragwürdig ist. Sie leben nicht nur von dem System, das gerade dabei ist, kaputtzugehen, sie profitieren auch – einige von ihnen immerhin mit Gewissensbissen – vom Zusammenbruch. Minus mal minus ergibt moralisch eigentlich nicht plus: Gegen das Böse, sagt die Moral, muss man kämpfen, nicht wetten. Rickert fasst das Dilemma zusammen, als er seine beiden Schützlinge anherrscht, weil diese angesichts ihrer Riesengewinne nicht den Preis für ihren Triumph realisieren: die Privatinsolvenz von Millionen von Kleinanlegern.
Dieser Ambivalenz bedient sich auch "The Big Short" selbst, als Produkt der US-amerikanischen Filmindustrie. Dass die Charaktere sympathisch wirken, erreicht Regisseur Adam McKay auch durch die Besetzung der Hauptrollen mit beliebten Stars wie Brad Pitt. Die Darsteller bringen ihre Star-Images in die Figuren ein: der sozial engagierte, künstlerisch interessierte Familienvater Brad Pitt oder der ehemalige Disney-Star und Frauenschwarm Ryan Gosling. Christian Bale, Darsteller des gebrochenen Superhelden Batman, spielt folglich die Figur mit dem ambivalentesten Rollenbild unter den vieren. Michael Burry erkennt als Erster die Finanzkatastrophe, ist aber durch seine soziale Disposition unfähig, in gesellschaftlich verantwortlicher Weise auf die Krise zu reagieren.