Dass Sanna Lenkens Film "Stella" heißt (und nicht etwa „Katja“), gibt bereits einen Hinweis darauf, aus welcher Perspektive die Regisseurin die Krankheit Magersucht thematisiert. Stella ist nicht nur ein Film über Essstörungen, sondern auch über die schmerzhaften Gefühle und die Hilflosigkeit im Umgang mit einem Menschen, der unter einer Essstörung leidet. Für Stella ist Katja eine wichtige Orientierung bei ihrer Suche nach sich selbst. Altersbedingt gibt es zwischen den Schwestern zwar eine klare Hierarchie, dennoch stehen sie sich nahe, lachen und kuscheln miteinander. Dass der zweite Platz hinter Katja für Stella trotzdem zunehmend unbefriedigender wird, deutet sich schon zu Beginn des Films an. Beim Eislaufturnier strahlen die Eltern stolz über Katjas Erfolg, während sich Stella nur als passive Zuschauerin erlebt. Als sie Katjas Siegerstrauß halten soll, regt sich in Stella erster Widerstand. Auf dem Heimweg schleift sie die Blumen mutwillig an der Wand entlang.

Verstohlene Blicke

Stellas beginnende Pubertät sorgt also für Veränderungen in der Beziehung der beiden Mädchen. Lenken verrät dies noch durch einen anderen Blick Stellas: Immer wieder schaut sie verstohlen zu Jakob herüber, Katjas attraktivem Trainer. Hier eröffnet sich eine Art Dreiecksbeziehung, in der Stellas erste, noch vage Verliebtheit und ihre Bewunderung für Katja eine heimliche Verbindung eingehen. Dabei bleibt zunächst unbestimmt, ob Stella so sein will wie Katja, um Jakob zu gefallen – oder ob sie sich in Jakob verknallt, weil sie Katja nacheifert.

Stella, Szene (© Camino)

Kleine Rivalitäten unter Schwestern

So beginnt sich in Stellas Bewunderung langsam ein Gefühl von Rivalität einzuschleichen, mit dem die ältere Schwester unter normalen Umständen wahrscheinlich nachsichtig umgehen würde. Doch als Sportlerin versteht Katja jeden Vergleich als Wettbewerb, den sie gewinnen muss. Als Stella sie beim Jogging begleiten will, reagiert Katja zunächst widerwillig und entgegnet spöttisch, dass sie das ohnehin nicht schaffe. Tatsächlich geht Stella schnell die Puste aus, sodass Katja sie allein auf einem dunklen Parkplatz zurücklässt. Zu Hause rächt sich Stella, in dem sie Katjas Ei isst. Katja, deren Essverhalten schon zwanghafte Züge zeigt, bekommt daraufhin einen Wutanfall. Doch auch wenn das Verhalten der großen Schwester Stella zunehmend entfremdet, versucht sie zunächst noch, Katja zu imitieren: zum Beispiel in ihrem Essverhalten. In der Schulmensa belehrt sie ihre beste Freundin Iga über Sportlerernährung. Die entgegnet nur, dass sie Stella neuerdings total langweilig findet.

Der Spiegel als Metapher

Zu Hause betrachtet sich Stella immer wieder im Spiegel, als könne sie so herausfinden, wer sie wirklich ist. Sie misstraut dem Bild und sucht verzweifelt nach einem dunklen Schatten, nachdem Katja aus Spaß behauptet hat, sie habe einen Damenbart. Ihre Spiegel verraten etwas über die beiden Mädchen: In Katjas Zimmer steht prominent ein Ganzkörperspiegel mit einer Lichterkette, der an die Spiegel in Theatergarderoben, sogenannte vanity mirror (Eitelkeitsspiegel), erinnert. Bei Stella hängt lediglich ein kleiner runder Spiegel mit altmodischer Schmiedeeisenfassung über dem Schreibtisch. Darin spiegelt sie sich, wenn sie Jakob schreibt. Die auf dem Schreiben beruhende Reflexion, das Nachdenken über sich, wird also nochmals gespiegelt und damit verdoppelt.

Dabei entsteht im Spiegel ein Bild von Stella, mit dem sie sich viel eher identifizieren kann als Katja mit ihrem Spiegelbild, das einen kontrollierenden Blick auf den eigenen Körper preisgibt. Doch Stella erkennt das Angebot eines positiven Spiegelbildes noch nicht und empfindet das andere Ich im Spiegel als feindselig. Ihre Verzweiflung über Katjas Zustand und ihre Wut auf sich selbst, weil sie nicht helfen kann, entlädt sich auf der Schultoilette mit einem Faustschlag in den Spiegel.

Widersprüchliche Gefühle

Als sich der schlechte Gesundheitszustand ihrer Schwester kaum noch verbergen lässt, erfindet Stella sogar eine Viruserkrankung, um Katjas Zusammenbruch auf dem Eis zu erklären. Aus Loyalität zu ihrer Schwester verstrickt sie sich immer mehr in deren Lügen. Doch Katjas unberechenbares Verhalten sorgt auch für eine zunehmende Distanz zwischen den Mädchen. Einmal stiftet Stella einen Klassenkameraden zu einem Telefonstreich an. Er soll bei einer „Bekannten, die voll einen Schaden hat“ anrufen und ihr mit verstellter Stimme „Du landest im Grab, wenn du nichts isst!“ ins Handy raunen. In diesem Streich kommen die widersprüchlichen Gefühle Stellas sehr treffend zum Ausdruck: Einerseits ist sie wütend auf Katja und will sie ärgern, andererseits macht sie sich große Sorgen und versucht, die Schwester wachzurütteln.

Stella, Szene (© Camino)

Katjas Scham

Wie verzweifelt die Situation auch für Katja ist, zeigt sich in einem Gespräch der beiden Mädchen, in dem sie Stella mit dem Vorwurf konfrontiert, für die Telefonstreiche verantwortlich zu sein. Katja findet keinen Ausweg mehr aus ihrer misslichen Lage, ist aber auch zu stolz, die Hilfe von Stella anzunehmen. Gleichzeitig ist aus Katjas Worten Scham herauszuhören. Als „voll peinlich“ und „ekelhaft“ empfindet sie ihre Situation. Zwar erkennt sie, dass sie ihre Gesundheit ruiniert, aber ihre Angst, nicht mehr Eislaufen zu können, führt so weit, dass sie Stella unter Tränen sogar mit Selbstmord droht.

In dieser Szene verrät das Wechselspiel zwischen den vorwurfsvollen Blicken Katjas und den ängstlichen Blicken Stellas, wie fragil ihr schwesterliches Verhältnis tatsächlich ist. Selbst Stellas schulische Leistungen beginnen unter der emotionalen Belastung zu leiden. Doch so schmerzlich diese Erfahrung für Stella auch ist, muss sie schließlich erkennen, dass es keinen Vertrauensbruch darstellt, wenn sie gegen Katjas ausdrücklichen Willen die Eltern informiert und damit das Leben ihrer Schwester rettet. Am Ende findet Stella trotz ihrer vermeintlich aussichtslosen Lage zu einer ungeahnten Stärke.