Kategorie: Hintergrund
Ein Dorf als Abbild der DDR
Analyse der Figuren aus dem Film Sputnik
Die Protagonisten/innen im Kinderfilm "Sputnik" stehen mit ihrem Handeln exemplarisch für unterschiedliche Verhaltensweisen und Haltungen von DDR-Bürger/innen gegenüber dem SED-Staat.
Markus Dietrichs Kinderfilm Zum Filmarchiv: "Sputnik" (Deutschland 2013) bietet eine Palette an interessanten Figuren, deren Handeln exemplarisch für die unterschiedlichen Verhaltensweisen und Haltungen von DDR-Bürger/innen gegenüber dem SED-Staat steht. Im Folgenden werden einige Hauptfiguren knapp analysiert.
Rike – die furchtlose Heldin
Die zehnjährige Gastwirtstochter Friederike führt nicht nur als Zum Inhalt: Ich-Erzählerin durch den Film, sie ist auch dessen Heldin und zentrale Identifikationsfigur. Dass sie davon träumt, Kosmonautin zu werden und ihrem Idol, dem in der UDSSR als Held verehrten Juri Gagarin nachzueifern, kann als Reflex auf die von der DDR propagierte Politik der Gleichstellung der Geschlechter verstanden werden. In erster Linie zeugt Rikes Wunsch aber von ihrer Abenteuerlust und Fantasie. Ihre Begeisterung für die im Westfernsehen ausgestrahlte Serie "Raumschiff Interspace" zeigt zudem, wie wenig sich Rike aus der Ideologie des SED-Staats macht: Denn die offizielle Staatsdoktrin der DDR lehnte das westdeutsche Fernsehen als kapitalistisches Propagandamedium rundweg ab. Auch gegenüber staatlichen Autoritäten wie dem Schuldirektor vertritt Rike furchtlos ihre Meinung.
Obwohl Rike durch ihr Verhalten aneckt, bleibt die DDR ihre Heimat und eine Ausreise in den Westen kommt für sie nicht in Frage. Ihre Tapferkeit beweist Rike in der Konfrontation mit dem Abschnittsbevollmächtigten Mauder. Um die konfiszierten, für den Bau eines Teleporters benötigten Fotolinsen zurück zu bekommen, bricht sie mit ihren Freunden sogar nachts in dessen Haus ein. Rikes Status als Heldin wird aber auch durch die Inszenierung betont: Ihre frechen Zöpfe erinnern ein wenig an Pippi Langstrumpf, ihr Outfit wirkt modern und unterstreicht ihre Unangepasstheit. Und die Kamera zeigt sie im Zum Inhalt: Schuss-Gegenschuss auf Augenhöhe mit den Erwachsenen, rückt sie in Zum Inhalt: Großaufnahmen emotional an uns heran, folgt ihren von Zum Inhalt: Filmmusik vorangetriebenen Aktionen – und macht sie damit auch optisch zum Motor des Geschehens: Rike "erobert" so den Raum, den ihr das weite Zum Inhalt: Cinemascope-Format bietet. Ihr Freiheitsdrang und der Mut, für ihre Träume zu kämpfen, finden so auch eine visuelle Entsprechung.
Katharina und Torsten Bode – das gespaltene Paar
Rikes Eltern Katharina und Torsten Bode gehört die Gaststätte in Malkow. Damit zählen sie zur kleinen und reglementierten Gruppe der Privatunternehmer in der DDR. Vielleicht zeigen beide schon deshalb keinerlei Sympathien für das politische System des "Arbeiter- und Bauernstaats". Allerdings hat sich Torsten mit den Verhältnissen, in denen er lebt, abgefunden und ist darauf bedacht, nicht negativ aufzufallen: Als Rike in der geschlossenen Kneipe Westfernsehen guckt, schaltet er das Gerät aus. Torstens Angepasstheit drückt sich auch optisch aus: Meist sieht man ihn in Zum Inhalt: dunklen Innenräumen in statischen Situationen. Den Freiheitsdrang seiner Tochter teilt er offensichtlich nicht. Anders als ihr Mann verhält sich dagegen Katharina, die zu ihrem Bruder Mike eine große Nähe empfindet und sich in Rike gut hineinversetzen kann. Obwohl Katharina unter der fehlenden Freiheit in der DDR leidet, hat sie es jedoch aufgegeben, für Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems zu kämpfen. Im Gegensatz zu Torsten, der nicht zurück lassen will, was er in Malkow aufgebaut hat, ist sie entschlossen, ihre Heimat wie Tausende Andere über die offenen Grenzen in der CSSR oder Ungarn in Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Zwar wird auch Katharina überwiegend in düster wirkenden Innenräumen gezeigt, anders als bei ihrem Mann jedoch wirkt sie dabei keineswegs passiv, was den Eindruck verstärkt, dass sie sich aus der herrschenden Enge befreien will.
Oma Bode – bodenständig und unpolitisch
Oma Bode, Torstens Mutter, steht in der Gaststätte der Familie am Zapfhahn und bildet damit das Zentrum des sozialen Lebens im Dorf. In Malkow ist sie fest verwurzelt. Ihre Heimat zu verlassen, käme ihr nie in den Sinn. Das bedeutet aber nicht, dass sie andere Lebensentwürfe nicht gelten lässt. Sie ist tolerant. Gegenüber ihrer Familie vertritt sie die Maxime, dass jeder sein eigenes Leben leben soll. Als sie erkennt, dass Katharina ausreisen will, versucht sie dennoch, ihre Schwiegertochter davon abzuhalten – sie könne es nicht ertragen, noch ein Kind zu verlieren. Politische Ideologien scheinen Oma Bode herzlich egal zu sein. Sie sieht in jeder Situation den Menschen. Als der Volkspolizist Mauder am Ende angesichts des Mauerfalls völlig am Boden verstört ist, lädt sie ihn erstmal zum Schnaps ein.
Mike – die "feindlich-negative Person"
Mike lebt im Haus seiner Schwester Katharina und ihres Mannes. Rikes geliebter Onkel, der als "Captain" ihre Raumfahrt-Ambitionen tatkräftig unterstützt, wollte früher selbst Kosmonaut werden. Ein Ziel, das angesichts der Tatsache, dass mit Sigmund Jähn lediglich ein einziger DDR-Bürger jemals an einer sowjetischen Weltraummission teilgenommen hat, nahezu illusorisch war und im Film eher als Symbol für die freie Entfaltung des Individuums steht. Mike ist nicht bereit, sich mit den Beschränkungen abzufinden, die ihm der SED-Staat auferlegt. Deshalb hat er bei den Behörden einen Ausreiseantrag gestellt. Ein Prozedere, vor dem in der DDR viele zurückschreckten. Denn die Anträge wurden oft abgelehnt, führten für die Antragsteller/innen in der Regel zu massiven Benachteiligungen, die sogar den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten konnten – und waren darüber hinaus oft Anlass für ihre gezielte Überwachung durch die Staatssicherheit. Das bekommt auch Mike zu spüren: Nachdem er bereits Zeit im Gefängnis verbracht hat, wird er als "feindlich-negative Person" durch den Volkspolizisten Mauder nun weiter ins Visier genommen. Dass seinem Ausreiseantrag schließlich stattgegeben wird, kommt einer Ausweisung nahe, denn sein angeblich negativer Einfluss auf sein Umfeld insbesondere auf Rike wird mehrfach im Film erwähnt. Obwohl Mike in "Sputnik" nur zu Beginn und am Ende zu sehen und sonst allenfalls am Telefon zu hören ist, nimmt er eine Schlüsselrolle ein, da seine Ausreise nach Westberlin Rike zum Bau der Beam-Maschine animiert. Rikes Trauer über seinen Fortgang lässt sich gut nachvollziehen, denn Mike wird – auch optisch – als Sympathieträger und einfühlsamer, fantasievoller und cooler Onkel inszeniert: Mit Sonnenbrille, Kinnbart, enger Blue-Jeans und Parka stellt er schon in modischer Hinsicht den Gegenentwurf zum Uniformträger Mauder dar.
Herr Karl – der Mann, der alles beschaffen kann
Ein weiterer Sympathieträger ist Herr Karl, der Leiter des Dorfkonsums. Die Geschäfte der Konsumgenossenschaft waren zur Zeit der DDR für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln von zentraler Bedeutung. Angesichts der Mangelwirtschaft und der Vernachlässigung der Konsumgüterindustrie war das Warenangebot der "Konsum"-Läden allerdings sehr begrenzt, so dass spezielle Kundenwünsche nur selten erfüllt werden konnten. Die beschränkten Konsummöglichkeiten waren auch ein Hauptgrund für das Bestehen der Schattenwirtschaft, die "Sputnik" humorvoll thematisiert. So ist Herr Karl für die Dorfbewohner/innen aus zwei Gründen unverzichtbar: In seiner offiziellen Funktion als Leiter des Konsums und als Mann, der unter der Hand alles beschaffen kann – vom Auspuff bis zur Spiegelreflexkamera. Obwohl Herr Karl im doppelten Sinne von der sozialistischen Mangelwirtschaft profitiert, macht er aus seiner Ablehnung des Systems keinen Hehl. Seine Provokationen gegenüber Mauder lassen die Vermutung zu, dass es sich bei seinem Schwarzhandel um einen subversiven Akt zivilen Ungehorsams handelt. Auch ist er alles andere als ein eiskalter Geschäftemacher und pflegt ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Kunden/innen. Zugleich ist er Rikes geheimer Verbündeter, der sie in ihrem Projekt bestärkt und mit den für den Bau der Beam-Maschine nötigen Bauteilen versorgt.
Mauder – die personifizierte Staatsmacht
Abschnittsbevollmächtigte wie Mauder hatten in der DDR vielfältige Aufgaben zu erfüllen. Für die Bürger/innen waren sie die lokalen Ansprechpartner in polizeilichen Dingen: Sie leisteten Streifendienst, nahmen Anzeigen auf, führten Verkehrskontrollen durch und waren für Meldeangelegenheiten zuständig. Sie arbeiteten auch der Staatssicherheit zu, indem sie Einschätzungen über Mitmenschen hinsichtlich ihrer politischen Zuverlässigkeit verfassten und Auffälligkeiten meldeten. Im Film verkörpert Mauder als Rikes Gegenspieler den Typus des "Hundertfünfzigprozentigen", der dem repressiven Überwachungsstaat Gestalt verleiht: Schon sein erster Auftritt zeigt ihn mit dem Fernglas bei der Observation. Der Volkspolizist wird als parodistisch überzeichneter Filmbösewicht dargestellt, der als Vertreter der Staatsmacht genretypisch nur bedingt ernst genommen wird. Seine Dienstbeflissenheit und Identifikation mit dem System machen ihn im Dorf zur unbeliebten Person. Mauder ist allerdings nicht harmlos, wie sich bei der Verhaftung von Herrn Karl zeigt. Als er im Dunkeln Rike mit der Taschenlampe nachspürt und dabei Kinderlieder singt, verbreitet er zudem einen für einen Kinderfilm bemerkenswerten Schrecken. Die Figur des Volkspolizisten Mauder kann zudem als Sinnbild für die Realitätsferne des SED-Regimes verstanden werden. Diese drückt sich in den angesichts der allgemeinen Lage absurden sozialistischen Floskeln aus, die Mauder – aber auch der Direktor der örtlichen Schule – verwenden, wird aber im Film auch visuell entwickelt: So tragen Mauders penibel geputzter Dienst-Wartburg und seine stets adrette Uniform zur Lächerlichkeit des "Vopos" bei.