Rokhsareh Ghaem Maghami wurde in Teheran geboren und studierte dort Film und Animation. Sie veröffentlichte eine Studie zum animierten Dokumentarfilm und inszenierte mehrere kurze und mittellange Dokumentarfilme, darunter "Going Up The Stairs" (2011), der international auf Festivals prämiert wurde. Zum externen Inhalt: Sonita (öffnet im neuen Tab) ist ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm, der international in den Kinos startet.

Frau Ghaem Maghami, ihre Geschichte macht Sonita zu einem außergewöhnlichen Mädchen. Wie haben Sie sie kennengelernt?

Ich habe sie über meinen Cousin kennengelernt, der Sozialarbeiter ist und mit Kindern arbeitet, die keinen Zugang zu Bildung haben. Er fragte mich, ob ich für Sonita Kontakt zu Leuten aus der Musikbranche vermitteln könnte. Ich dachte anfangs nicht, dass ich einen Film über sie machen würde. Aber dann merkte ich, wie ambitioniert sie ist und wie viele Träume sie hat, die die meisten Jugendlichen in ihrer Situation nicht haben. Das weckte mein Interesse.

Im Film erfahren wir, dass Sonita mit ihrer Familie aus Afghanistan in den Iran geflohen ist. Wie kam es dazu, dass sie mit ihrer Schwester in Teheran blieb, während der Rest der Familie nach Afghanistan zurückkehrte?

Die ganze Familie ist unter schwierigsten Umständen in den Iran geflohen. Sie wurden von den Taliban verfolgt, einer ihrer Brüder wurde angeschossen und überlebte nur knapp. Sie fanden einen Fahrer, der sie gegen Bezahlung zur Grenze bringen sollte, aber mitten in der Wüste aussetzte, sodass sie zu Fuß in den Iran immigrierten. Später wurde Sonitas Vater krank und hatte den Wunsch, nach Afghanistan zurückzukehren. Bis auf ihre Schwester und einen Bruder, die zwischenzeitlich im Iran geheiratet hatten, ging die Familie zurück nach Afghanistan.

Warum spielt ihr Vater im Gegensatz zur Mutter keine Rolle im Film?

Weil er gestorben ist. Er war sehr viel älter noch als ihre Mutter, die etwa im Alter von zwölf mit ihm verheiratet wurde. Sonita selbst war noch relativ jung, als ihr Vater starb.

Ihr letzter Film „Going Up The Stairs“ handelt von einer iranischen Frau, die im Alter anfängt zu malen und die Bilder vor ihrem Ehemann verstecken muss. Welche Restriktionen kennen Sie selbst als Filmemacherin im Iran?

Meine bisherigen Filme handeln alle von Menschen, die unter schwierigen Bedingungen für ihren Traum kämpfen, als Künstler leben zu können. Dieser Kampf interessiert mich. In der iranischen Filmindustrie gibt es keine spezifischen Restriktionen für Frauen, schon seit den 1960er-Jahren hatten wir eine Reihe von Filmemacherinnen. Das ist nichts Neues. Aber für alle Filmschaffenden ist die Zensur sehr drastisch und die knappen Fördermittel werden meist an Projekte vergeben, die ideologische Vorgaben erfüllen. In der Musik ist die Situation anders, da dürfen Frauen als Solosängerin nicht auftreten. Das verbietet die Scharia.

Im Verlauf des Films reisen Sie mit Sonita nach Afghanistan. Wie unterscheidet sich die gesellschaftliche Situation der Frauen dort von der im Iran?

Vor der Islamischen Revolution von 1979 gab es im Iran eine etwa 60 Jahre andauernde Phase der Modernisierung, die unser Land nachhaltig geprägt hat. Etwa 65 Prozent der Studierenden sind heute Frauen. Diese Modernisierung gab es in Afghanistan nicht – vielleicht in abgeschwächter Form in Kabul, aber der Iran ist vergleichsweise liberaler. Das spiegelt sich mehr in der Gesellschaft als in der Gesetzgebung wider, denn rechtlich dürften Frauen in Afghanistan etwa unverhüllt auf die Straße gehen, aber die Menschen würden das nicht tolerieren. Hinzu kommt, dass in der Schicht, aus der Sonita kommt, Bildung für Frauen kaum wertgeschätzt wird. Viele sollen ab einem bestimmten Alter das Haus der Eltern oder des Ehemanns möglichst gar nicht mehr verlassen.

Ihr Film hat einen klaren Wendepunkt, als Sie entscheiden, in Sonitas Leben einzugreifen und sie von der anstehenden Verheiratung „freizukaufen“.

Das hat viele Fragen in mir aufgeworfen: Sollte ich wirklich das Drama im Zentrum meines Films kaputtmachen? Auch ein Dokumentarfilm braucht die dramatische Entwicklung und ich setze ihr ein Ende, indem ich helfe. Als Mensch habe ich mir andere Fragen gestellt: Kann ich zulassen, dass ein Mädchen wie Sonita vor meinen Augen entführt wird, obwohl ich das leicht verhindern könnte? Wie würde ich mich damit fühlen und wie würden die Leute über mich denken, die diesen Film sehen? Wie würde Sonita sich damit fühlen? Wir waren damals seit zwei Jahren in Kontakt und es hat eine Weile gedauert, bis sie mir vertraut hat. In erster Linie war es eine menschliche Entscheidung. Aber ich hätte auch keinen Film verantworten wollen, in dem ich tatenlos Zeugin werde, wie ein Mädchen verkauft wird. Die Frage war dann, in welcher Form ich selbst im Film erscheinen muss.

Hat diese Entscheidung Ihre Sicht auf Ihre Arbeit als Dokumentarfilmerin verändert?

In den vorigen Filmen habe ich die Protagonistinnen und Protagonisten zum Teil auch unterstützt, dies aber nicht im Film thematisiert. Ich bin jetzt eher bereit, Teil des Films zu werden oder zumindest meine Rolle als Filmemacherin nicht zu verleugnen. Das ist nicht grundsätzlich mein Ansatz für zukünftige Filme, aber ich werde weniger Angst davor haben, im Film zu erscheinen oder einzugreifen, wenn es sein muss.

Wie sehr waren Sie involviert in Sonitas Karrierestart als Rapperin?

Nun, ich habe das Musikvideo, das man im Film sieht, mit ihr gedreht, habe es geschnitten und im Internet verbreitet. Darauf haben mich Leute aus den USA angeschrieben, die teilweise auch den Fundraising-Trailer des Films kannten – das hat sich also gegenseitig beeinflusst. Sie haben Sonita das Stipendium angeboten. Es war klar, dass wir für das Visum Papiere in Afghanistan besorgen müssen, aber eine andere Option gab es nicht. Ihre Zukunftsaussichten hätten sich im Iran nicht verbessert.

Zurzeit geht Sonita noch in den USA zur Schule. Wissen Sie, welche Pläne sie jetzt für die Zukunft hat?

Sie möchte Jura studieren und sich gegen die Verheiratung von Kindern engagieren, zumindest sind das ihre Pläne. Sie macht immer noch gerne Rap-Musik, aber soweit ich weiß, ist das nicht mehr ihr großes Ziel.