Es gibt in Rico Dorettis Leben ein Gerät, das weit mehr ist als bloßes Spielzeug: ein Aufnahmegerät, das der Zehnjährige überall hin mitnimmt und das ihm immer wieder zur wichtigen Gedankenstütze wird. Rico bespricht Kassetten, wie andere Leute Notizblöcke vollschreiben. Er erinnert dabei ein wenig an den kleinen Moritz aus Rolf Losanskys "Moritz in der Litfaßsäule" (DDR 1983). Auch Rico ist etwas langsam im Kopf, aber er hat gelernt, mit seiner "Tiefbegabung" umzugehen. Der tragbare Kassettenrekorder hilft ihm dabei. Sein ständiger Begleiter nimmt aber noch ganz andere Dinge auf: den schönen italienischen Gesang seiner Mutter Tanja zum Beispiel. Wenn sich diese mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Nachtclub macht, um die nächste Schicht hinterm Tresen anzutreten, liegt Rico längst im Bett. Und lauscht der Stimme seiner Mutter.

Mutter und Sohn

Neele Leana Vollmars Film handelt von Kindern, die in keiner traditionellen Familienstruktur aufwachsen. Ricos Vater ist früh gestorben und einen neuen Partner, der die Rolle der männlichen Bezugsfigur ausfüllen könnte, gibt es nicht. Tanja und Rico sind weitgehend auf sich allein gestellt. Dafür ist die Bande zwischen Mutter und Sohn umso enger. Nicht klammernd, aber doch so unzertrennlich, dass die beiden Mitglieder der Familie Doretti wissen: Wir können uns aufeinander verlassen. "Mein Kleener", das sagt Tanja nicht nur – es steht auch auf Zettelchen, die überall in der Wohnung kleben. Was Tanja an Präsenz tagsüber vermissen lässt, versucht sie durch liebevolle Botschaften wettzumachen.

Rico, Oskar und die Tieferschatten, Szene (© 20th Century Fox)

Allein im Altbau

Als umso wichtiger erweisen sich für Rico die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Hausgemeinschaft – auch wenn sich darunter einige Sonderlinge befinden. Nachbar Fitzke etwa: alleinstehend, reichlich verwahrlost und menschenfeindlich. Frau Dahling ist dagegen die gute Seele des Mietshauses. Manchmal schaut Rico abends bei ihr vorbei, dann gibt es immer "einen schönen Liebesfilm" im Fernsehen und "Müffelchen" zum Naschen. Der neue Nachbar Simon Westbühl, ein gutmütiger Hüne, stellt sich bei den Bewohnerinnen nach dem Einzug erst mal mit einem Blumenstrauß vor. Dafür hat Rico ihn augenblicklich als möglichen Ersatz-Papa auserkoren. Einen anderen Typus von Nachbar verkörpert der junge Rainer Kiesling: Der hat auch Ahnung von Frauen, ist aber immer in Eile. Mysteriös bleibt der bullige Marrak mit seinem Wäschesack und dem riesigen Schlüsselbund, dem Rico täglich im Treppenhaus begegnet und der immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat. "Agent Doretti“ nennt er Rico. Das Haus mit seinen schrulligen Bewohnern ist ein vertrauter Ort, in dem Rico sich notfalls auch blind zurechtfinden würde. Erst wenn er alleine vor die Tür tritt, muss er sich den Herausforderungen des Alltags stellen.

Familie vs. Bande

Kinder, deren Eltern viel arbeiten und daher wenig Zeit für ihren Nachwuchs haben (oder sich als Alleinerziehende durchschlagen), finden im Idealfall Halt in einer engen Freundschaft. Für Rico übernimmt Oskar diese Rolle. So ist Rico ganz aufgeregt, als er Oskar auf der Straße kennenlernt. Auch der ängstliche Junge, der sich von seinem Vater vernachlässigt fühlt, mag Rico vom ersten Moment an. Schließlich lässt sich gemeinsam so manche Hürde überwinden. Der Weg zum Supermarkt zum Beispiel oder der Aufstieg auf das Dach des Mietshauses mit freiem Blick über die Stadt. In seinen realistischen Zum Inhalt: Milieuschilderungen ähnelt Zum externen Inhalt: Rico, Oskar und die Tieferschatten (öffnet im neuen Tab) Hark Bohms Jugendfilmklassiker "Nordsee ist Mordsee" (1976). Wie Rico und Oskar raufen sich der frühreife Uwe und Dschingis, der von den älteren Jungen in der Hochhaussiedlung gehänselt wird, zusammen. In Christian Ditters Zum externen Inhalt: Vorstadtkrokodile (öffnet im neuen Tab) (2009) gründen die Kinder sogar eine Bande, als Rückzugsort gegenüber der Welt der Erwachsenen. Wenn es ganz hart kommt, muss die Freundschaft die Familie ersetzen.

Über Grenzen hinweg

In "Rico, Oskar und die Tieferschatten" fungiert auch das Zum Inhalt: Detektiv-Motiv als Motor für beiläufige Milieubeschrei-bungen. Denn die Jagd auf Mister 2000 zwingt Rico, seine vertraute Umgebung zu verlassen und die Großstadt zu erkunden. Im berühmten Schöneberger Sozialpalast, einem grauen Hochhauskomplex mitten in der Stadt, macht er noch eine ganze andere Erfahrung mit modernen Patchwork-Familien. Oskars Freundin Sophia sitzt alleine in ihrem Zimmer, während die Mutter im Wohnzimmer nebenan vor dem übergroßen Flachbildfernseher versackt. Menschen können in "Rico, Oskar und die Tieferschatten" auf engem Raum zusammenleben und begegnen einander doch mit Schweigen. Dafür finden sie am anderen Ende der Stadt, in anderen Milieus, neue Freunde. Bei der Suche nach Sophia helfen Rico etwa zwei Jungen, die ein ähnlich gut funktionierendes Team abgeben wie Oskar und er.

Alleinsein verbindet

Ähnlich ist es in der Caroline-Link-Verfilmung von Erich Kästners Zum externen Inhalt: Pünktchen und Anton (öffnet im neuen Tab) (1999). Hier entwickelt sich die Freundschaft zwischen den beiden Hauptfiguren nicht aufgrund gemeinsamer Interessen, sondern durch die verbindende Erfahrung des Alleinseins: Ein reiches Mädchen und ein armer Junge begegnen sich zufällig beim Betteln in der Stadt. Während ihr langweilig ist, braucht er das Geld für seine kranke Mutter. Gegensätze ziehen sich auch in "Rico, Oskar und die Tieferschatten" an. Rico fehlt der Vater, Oskar die Mutter. Der eine ist vorlaut, der andere altklug. Aber als es drauf ankommt, können sie aufeinander zählen. Zusammen verwandeln sie ihre Schwächen in Stärken.