"Für alle wertvollen Mädchen überall." Dieser Satz steht am Schluss des Filmes Zum Filmarchiv: "Precious – Das Leben ist kostbar" (Precious, Lee Daniels, USA 2009) – eine Art Aufforderung des Filmemachers an die Zuschauer/innen, sich selbst und andere Menschen wertzuschätzen und anzuerkennen. Ein schöner Wunsch: Denn wenn man sich "Selbstwert" aus der Sicht psychologischer Forschung ansieht, wird klar: Seelische Gesundheit und Wohlbefinden hängen sehr eng mit der Höhe des Selbstwertes zusammen. Umgekehrt sind fast alle psychischen Erkrankungen – ganz gleich ob Ängste, Depressionen oder Essstörungen – mit einem geringen Selbstwert verbunden.

Begriffsklärung

Nun stellt sich zunächst die Frage, was Selbstwert eigentlich genau ist. "Es handelt sich um eine subjektive Einschätzung. Im Grunde ist Selbstwert das, was ich von mir halte", erklärt die Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Gitta Jacob. Und die renommierte Selbstwert-Forscherin Astrid Schütz sagt: "Selbstwertschätzung ist das Ausmaß positiver Selbstbewertung". Ein wenig unklar bleibt der Begriff aber dennoch, auch in der psychologischen Literatur werden Selbstliebe, Selbstvertrauen und Selbstwertschätzung oft gleichgesetzt.

Talente, Freundschaften, Körpergefühl

In der modernen Forschung setzt sich Selbstwert häufig aus drei Komponenten zusammen: Einer Leistungskomponente, in der es darum geht, was man kann, welche Talente und Fähigkeiten man hat. Einer sozialen Komponente, die zeigt, wie man mit anderen zurechtkommt und im sozialen Netz eingebettet ist. Und schließlich einer körperlichen Komponente, die sich vor allem auf die Frage bezieht, ob eine Person sich schön oder hässlich, sportlich oder unsportlich fühlt. Viele Studien haben gezeigt, dass Menschen eine Summe aus den einzelnen Teilbereichen bilden und daraus eine Art Gesamtselbstwert ableiten. Dieser Aspekt weist darauf hin, dass jede noch so kleine Steigerung des Selbstwertes in einem Teilbereich des Lebens Auswirkungen auf den Gesamtselbstwert haben kann. Im Film Zum Filmarchiv: "Precious" wird dies besonders deutlich: Die Lehrerin fragt jede Schülerin der Sonderklasse zu Beginn des Schuljahrs, was sie gut kann. Die Antwort der Hauptfigur lautet: Nichts. Diese Aussage ist ein Indiz für ihren extrem geringen Selbstwert. Die neue Lehrerin lässt aber nicht locker. Sie lässt die Mädchen fast täglich ihre eigenen Stärken und Träume aufschreiben – und kommt immer wieder auf diese zurück. So kann schließlich auch die Hauptfigur Precious von sich sagen, dass sie gut kochen kann.

Selbstwert muss wachsen

Selbstwert ist also keine angeborene, für immer gleich stark oder schwach ausgeprägte Eigenschaft. Zwar gibt es auch eine "Eigenschaftskomponente", also Menschen, die schon immer selbstbewusster sind als andere, ein Teil des Selbstwerts ist aber variabel. Das wird beispielsweise deutlich, wenn man sich dessen Entwicklung im Laufe des Lebens betrachtet: Bei Kindern ist der Selbstwert häufig noch brüchig, mal stark, mal schwach. Im Jugendalter gibt es nochmals einen großen Einbruch; besonders Mädchen fühlen sich in dieser Zeit schlecht, haben vor allem im körperlichen Bereich oft ein geringes Selbstwertgefühl, wie eine Studie der Psychologen/innen Gianine Rosenblum und Michael Lewis aus dem Jahr 1999 zeigt. Doch nach dieser Krise stabilisiert sich der Selbstwert bei den meisten Menschen, sie fühlen sich wohler und sicherer mit sich selbst.

Das Loben der Anderen

Das heißt aber auch, dass die Pubertät viele Chancen birgt, ein besseres Selbstwertgefühl aufzubauen. Nach dem "Modell der psychosozialen Krisen" des Psychologen Erik Erikson ist nämlich die Pubertät eine Phase, in der Jugendliche die Aufgabe haben, sich vom Elternhaus abzulösen und eine eigene Identität – und damit auch einen eigenen Selbstwert – auszubilden. In dieser Zeit werden Rückmeldungen von Menschen außerhalb der Ursprungsfamilie, zum Beispiel von wohlwollenden Freunden/innen oder ermutigenden Vorbildern, extrem wichtig. Im Film Zum Filmarchiv: "Precious" sieht man deutlich, dass die Heldin immer sicherer wird, je mehr positive Beziehungen sie zu anderen Menschen aufbaut – und wie sehr es sie stärkt, wenn sie ehrliche, positive Rückmeldungen von Anderen bekommt.

Scham versus Selbstwert

"Nichts kann den Menschen mehr stärken, als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt." Dieser vielzitierte Aphorismus fasst gut zusammen, unter welchen Bedingungen Selbstwert auch in der Ursprungsfamilie gedeihen kann. Denn es bestehen keine Zweifel, dass Eltern großen Einfluss auf die Ausprägung des Selbstwertgefühls haben. Besonders zwei Dinge wirken sich nachweislich negativ auf den Selbstwert von Kindern aus. Erstens: Wenn Liebe an Bedingungen geknüpft ist und nur gute Leistungen zählen. Diese Art der elterlichen Rückmeldung führt häufig dazu, dass der Selbstwert auch im Erwachsenenalter extrem schwankt. Zweitens: Wenn Eltern ihre Kinder körperlich und sexuell misshandeln. "Wenn Kinder missbraucht werden, wird ein dominantes Gefühl in ihrem Leben die Scham", erklärt Psychotherapeutin Gitta Jacob. "Und Scham ist im Grunde das Gegenteil von Selbstwert."

Vom Träumen zum Tun

Kinder, die in gewalttätigen und übergriffigen Elternhäusern aufwachsen, bauen sich in ihrer Scham und Hilflosigkeit oft – wie die Filmheldin Precious – eine Fantasiewelt auf, in der sie grandiose Stars sind. "Diese Tagträumerei ist eine Art Überkompensation", erklärt Psychotherapeutin Jacob. "So hält man sich die Flut negativer Gefühle eine Weile vom Hals." Der Fantasie-Puffer ist für viele Kinder in bestimmten Phasen überlebensnotwendig. Dennoch hat man in der Therapie mit Borderline-Patienten/innen festgestellt, dass Betroffene irgendwann vom Tagträumen ablassen müssen, um stattdessen zu versuchen, ein eigenes lebenswertes Leben in der Realität aufzubauen.

Einschätzung der eigenen Kraft

Wie wichtig es ist, vom Träumen zum Tun zu kommen, zeigt die Forschung zum Thema "Selbstwirksamkeit". Diese bezeichnet das Ausmaß, mit dem ein Mensch sicher weiß, dass die eigenen Handlungen auch eine positive Wirkung zeigen. Je höher die Erfahrung von Selbstwirksamkeit durch Ausprobieren und Handeln, desto höher auch der Selbstwert - und dadurch steigt wiederum der Mut, Neues zu wagen. Wenn man ein gewisses Maß an Selbstwirksamkeit aufgebaut hat, potenzieren sich also die positiven Effekte. Und dafür sind die ersten Mini-Schritte, wie sie die Protagonistin in Zum Filmarchiv: "Precious" geht, absolut entscheidend.

Literatur:
Dweck, Carol: Selbstbild. Wie unser Denken Erfolge und Niederlagen bewirkt, Tübingen 2009

Schütz, Astrid: Je selbstsicherer, desto besser? – Licht und Schatten positiver Selbstbewertung, Landsberg 2005

Welter-Enderlin, Rosmarie: Resilienz und Krisenkompetenz: Kommentierte Fallgeschichten, Heidelberg 2010