Prof. Dr. Sebastian Dullien ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung und Professor für Allgemeine Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin (HTW). Er plädiert unter anderem für eine stärkere Regulierung des Finanzmarktes, um unser Wirtschaftssystem gerechter zu gestalten.

kinofenster.de: Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem birgt gravierende Probleme und Risiken – sowohl in sozialer als auch in ökologischer Hinsicht. Im Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Oeconomia" fragt jemand: "Wer kapituliert zuerst: Die Erde oder der Kapitalismus?" Was meinen Sie?

Sebastian Dullien: Vorerst wohl weder noch. Ich habe vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel Der gute Kapitalismus geschrieben. Darin werden Staaten in besser und weniger gut regulierte Wirtschaftssysteme eingeteilt, manche sind nützlich für die Menschen, manche weniger nützlich. Beim Kapitalismus ist das auch so: Der Raubkapitalismus in manchen Ländern ist sehr schädlich für die Menschen, die dort leben. Dagegen hat der zu Vorwendezeiten in Westdeutschland entstandene Zum externen Inhalt: Rheinische Kapitalismus (öffnet im neuen Tab) vielen Wohlstand gebracht. Wahrscheinlich muss man nun noch etwas daran arbeiten, damit auch die Ökologie und die soziale Gleichheit bei dieser Art des Wirtschaftens stärker zum Vorschein kommen.

kinofenster.de: Der Kapitalismus folgt dem Wachstumsdogma: Ohne Wachstum kann das System Wirtschaft nicht überleben. Ist das nicht das Kernproblem?

Sebastian Dullien: Das halte ich für einen Fehlschluss. Vielerorts wird argumentiert, dass, weil ich einen Kredit aufnehme und hinterher mehr zurückzahlen muss, die ganze Welt wachsen muss. Das stimmt in einer Welt mit positiven Zinsen. Nun haben wir aber derzeit eine Welt, in der der Realzins negativ ist, die Inflation ist höher als der Zins. Von daher ist schon die Prämisse nicht mehr korrekt. Jetzt könnte ich sagen, eine Welt mit negativem Zins ist kein Kapitalismus mehr, aber: Es gibt ihn schon eine Zeit lang, womöglich gibt es ihn auch noch eine Weile. Die aktuelle Situation zeigt, dass Kapitalismus auch mit negativen Realzinsen funktioniert. Damit ist das Argument des Wachstumszwangs raus.

kinofenster.de: Die meisten Unternehmen streben aber weiter nach Gewinn und Wachstum – mit allen bekannten Auswirkungen für Umwelt und soziale Gleichheit.

Sebastian Dullien: Dass Unternehmer gerne mehr verkaufen möchten, ist aus individueller Sicht doch verständlich. Die Frage ist, ob das Wachstum eine notwendige Funktionsbedingung für den Kapitalismus ist. Davon bin ich nicht überzeugt. Die Mehrumsätze des einen können ja auch auf Kosten der Konkurrenten gehen. Wachstum ist kein konstituierendes Element des Kapitalismus.

kinofenster.de: Was braucht er denn, um weniger Probleme aufzuwerfen?

Sebastian Dullien: Der ungeregelte oder falsch geregelte Kapitalismus führt in vielerlei Hinsicht zu nicht gewünschten Ergebnissen. In Anlehnung an Goethes Zauberlehrling könnte man sagen: Der Markt ist ein guter Knecht, aber ein schlechter Herrscher. Das heißt: Man muss klare Grenzen ziehen, was das System wann tun darf.

kinofenster.de: Was heißt das mit Blick auf den Klimawandel?

Sebastian Dullien: Hier geht es darum, Instrumente zu setzen, die verhindern, dass das System CO2 ausstößt. Das kann ich über CO2-Bepreisung oder Emissionshandel machen – aber trotzdem ist es am Ende noch Kapitalismus. Man kann innerhalb des Systems durch kluge Regeln und Eingriffe verhindern, dass es zum ökologischen Kollaps kommt. Es gibt ja auch viele wirtschaftliche Aktivitäten, die relativ CO2-neutral sind.

kinofenster.de: Welche?

Sebastian Dullien: Wenn ich beispielsweise mehr Kräfte im Gesundheitsamt einstelle, um Covid-19-Patienten nachzuverfolgen und die arbeiten vielleicht sogar von ihrem Homeoffice aus, gibt es praktisch keinen CO2-Zuwachs. Ich habe aber ein höheres Bruttoinlandsprodukt, weil der Staat die Löhne dieser Menschen zahlt. Leider wird manchmal so getan, als ob es zwingend notwendig ist, dass Wirtschaftswachstum mit steigendem Ressourcenverbrauch einhergeht. Es ist aber die Frage, wo das Wachstum herkommt. Ich bin optimistisch, dass der der Kapitalismus auch ohne zunehmenden Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoß funktioniert und wahrscheinlich auch ganz ohne Wirtschaftswachstum.

kinofenster.de: Weil Regulierung das Wachstum hemmen würden, gab es jahrelang beispielsweise im Verkehrssektor praktisch keinen Rückgang der CO2-Emissionen, die Bundesregierung hat einen CO2-Preis festgesetzt, den viele ExpertInnen nicht für ausreichend halten, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Warum?

Sebastian Dullien: Weil bis vor kurzem überhaupt niemand versucht hat, etwas daran zu ändern. Wir haben die Ökosteuer 1998 eingeführt auf einem relativ niedrigen Niveau, danach ist sie nicht mehr erhöht worden. Real ist der Preis von Kraftstoffen massiv gefallen seit damals.

kinofenster.de: Auf europäischer Ebene ist seit Jahren klar, dass die EU ab 2021 Automobilkonzerne mit Strafzahlungen belegt, deren Produkte zu viel CO2 emittieren.

Sebastian Dullien: Ja, die Kommission hat die Strafen aber lange nur angekündigt. Mein Punkt ist: Die Politik hat die Klimaproblematik nicht ernst genommen und die Regeln nicht so gesetzt, dass der Ressourcenverbrauch sank. Jetzt versucht man das zum ersten Mal einigermaßen ernsthaft.

kinofenster.de: Einigermaßen?

Sebastian Dullien: Es ist im Vergleich zu früher der erste relevante Versuch, es zu tun. Lange war sogar die Notwendigkeit, den Klimawandel stoppen zu müssen, bestritten worden, das war auf der politischen Agenda nicht weit oben. Aber das ist ja kein kapitalistisches, sondern ein demokratisches Problem. All das sagt nichts darüber aus, ob ein "guter" Kapitalismus möglich ist. Es zeigt nur: Je länger man zögert, desto größer ist danach der Veränderungsdruck.

kinofenster.de: Der Kapitalismus hat es auch nicht geschafft, die Ungleichheit weltweit zu lindern. Wieso?

Sebastian Dullien: Im globalen Maßstab ist die Ungleichheit seit der Jahrtausendwende wahrscheinlich sogar gesunken, wie etwa Branko Milanović beschreibt: Mehrere hundert Millionen Menschen in China sind beispielsweise nicht mehr so arm wie früher. Anderen Schwellenländern geht es ähnlich. Wenn ich in diese Länder schaue, gibt es dort dennoch eine massive Konzentration von Einkommen und Vermögen. Aber auch hier lautet die Frage: Ist das ein Problem des Kapitalismus an sich oder ein Problem des Kapitalismus, wie er vor Ort praktiziert wird?

kinofenster.de: Wie ist das in Deutschland?

Sebastian Dullien: Wenn ich mir das aktuelle Steuersystem anschaue, ist es nicht verwunderlich, dass Vermögen und Einkommen auf nationaler Ebene auseinanderdriften, auch wenn durch den Aufholprozess einzelner Länder die globale Ungleichheit zurückgeht. Unternehmens-erbschaften werden praktisch nicht besteuert, die Spitzensteuersätze bei Einkommen liegen weit unter dem Niveau der Zeit von Helmut Kohl, die Vermögenssteuer wurde ausgesetzt und nicht wieder eingeführt.

kinofenster.de: Was sähe ihre ideale Wirtschaftsordnung aus?

Sebastian Dullien: Wir waren mit dem Rheinischen Kapitalismus mal bei einem guten Anfangspunkt. Auch andere Modelle wie die in den skandinavischen Ländern sind für viele Menschen angenehm und nützlich. In diesen erfolgreichen Modellen hat jeweils der Staat dem Markt klare Grenzen gesetzt und mit Regeln, aber auch mit Transfers Einkommen kräftig umverteilt. Man muss auch sehen, dass der Kapitalismus eine tolle Innovationsmaschine ist. Er schafft Konsummöglichkeiten, die das Leben einfacher und schöner machen. Man sollte eins dieser zentraleuropäischen Systeme nehmen und die Dinge korrigieren, die schief laufen. Wichtig: die ökologische Komponente, soziale Aspekte. Hier muss man mit Steuern, Mindestlohnregulierung und der Stärkung von Gewerkschaften die wirtschaftliche Macht so verschieben, dass alle einen fairen Anteil am Produktionsergebnis bekommen. Damit das vernünftig funktioniert, brauchen wir auch eine stärkere Regulierung des Finanzmarktes. Die Spekulationsblasen dort haben immer wieder die Gesamtwirtschaft in die Krise gedrückt.