Eline Gehring hat als Kamerafrau und Editorin (Glossar: Zum Inhalt: Montage) gearbeitet, bevor sie 2013 ihr Zum Inhalt: Regie-Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) Regie begann. Zum Filmarchiv: "Nico" ist ihr Langfilmdebüt und feierte 2021 beim Filmfestival Max Ophüls Preis seine Weltpremiere. Dort wurde Hauptdarstellerin Sara Fazilat, die den Film auch produziert hat, als beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet. Sie hat in London die Royal Academy of Dramatic Art und an Guildhall School of Music and Drama besucht und im Anschluss an der DFFB und an der Columbia University in New York Filmproduktion studiert. Sara Fazilat ist Vorstandsmitglied von Pro Quote Film, hat eine eigene Produktionsfirma (Glossar: Zum Inhalt: Filmproduktion) gegründet und übernimmt Rollen für Film- und Fernsehproduktionen.

Unter dem Podcast finden Sie das Gespräch auch in schriftlicher Form. Der Text weicht von der Hörfassung leicht ab.

kinofenster.de: "Nico" ist das Langfilmdebüt von Eline Gehring, das sie zusammen mit ihrer Hauptdarstellerin und Produzentin Sara Fazilat und der Kamerafrau Francy Fabritz geschrieben hat. Es ist eine Geschichte über eine junge Deutsch-Perserin: Nico, die nach einem rassistischen Angriff auf der Straße ihr Trauma mit Karate-Training überwinden will. Mein Name ist Anna Wollner und ich habe für kinofenster.de mit Eline Gehring und Sara Fazilat gesprochen und die beiden gefragt, was für sie die Ausgangsidee für ihren Film war.

Sara Fazilat: Eline und ich haben zusammen angefangen, an der Filmhochschule zu studieren. Wir waren im selben Jahrgang, haben ziemlich schnell zueinandergefunden und Filme gemacht. Irgendwann meinte ich, dass ich gerne einen Film machen möchte, der so divers ist wie unser Umfeld und unser Publikum. Und dann haben wir angefangen, zusammen zu schreiben, weil wir beide es wichtig, vor allem selbstverständlich fanden, divers zu sein. Und dann gab es das berüchtigte Liebesszenenseminar (lacht), in dem Eline und ich jeweils bei einem Film Regie geführt haben und Francy Fabritz für uns beide die Kamera geführt hat – und dann war eigentlich ziemlich schnell klar: Wir drei wollen jetzt gemeinsam diesen Weg gehen und weiter diese Geschichte erzählen.

Eline Gehring: Genau. Wir haben uns erst einmal hingesetzt und wussten, diese Ausgangsmaterialien waren divers, so divers wie unser Publikum und so weiter. Und wir haben überlegt, was verbindet uns drei Frauen eigentlich miteinander? Welche Gefühle verbinden uns? Wir haben dann schnell gemerkt, dass uns dieselbe Ohnmacht und Wut verbindet, die wir haben, wenn wir an Sexismus und Feminismus im Alltag denken, und haben dann gespürt, dass wir uns gegenseitig wahnsinnig befruchten, wenn wir uns Geschichten erzählen, die wir in unserem Alltag erlebt haben und wieviel Gemeinsamkeiten wir an Gefühlen miteinander teilen – und dann ist diese Geschichte entstanden.

kinofenster.de: Die Hauptfigur des Films ist die titelgebende Figur: Nico. Wie habt ihr zusammen die Figur entwickelt?

Sara Fazilat: Uns war grundsätzlich bei den Namen wichtig, dass sie möglichst herkunfts- und genderneutral sind. Deswegen kamen wir auf Nico, Toni, Ronny und Rosa. Da wir zu dritt das Zum Inhalt: Drehbuch geschrieben haben, war ich bei der Figurenbildung und schon bei der Vorbereitung dazu, also, wohin es gehen soll und wie es sein soll, die ganze Zeit involviert. Und war es wichtig, zu schauen, was passieren würde. Denn wir wollten nicht in so eine vermeintliche Opferhaltung gehen, die man oft sieht, sondern wir wollten es anders und haben uns gefragt: Wie würden wir damit umgehen, wenn uns das passieren würde?

Eline Gehring: Total wichtig war uns, dass Nico sich selbstverständlich als dazugehörig fühlt. Deswegen ist der Anfang des Films auch eine einzige Heiterkeit. Das war uns total nicht nur wegen der Zum Inhalt: Dramaturgie wichtig, sie schon nach der 10. Minute in so einen Übergriff zu stecken und dass sie so völlig aus ihrem Alltag gerissen wird, sondern vor allem auch um sie zu charakterisieren, um ihr und auch den Zuschauenden zu zeigen: Hey, damit hat sie jetzt gar nicht gerechnet! Das wurde überhaupt nicht angeteasert! Ich hab jetzt mit allem gerechnet, aber nicht diesem Übergriff!

Sara Fazilat: Außerdem war es wichtig, dass sie sich auch selbst daraus bewegen kann und selbst empowert. Das war auf jeden Fall von Anfang an gegeben.

kinofenster.de: Ihr habt es schon ein bisschen angedeutet. Trotzdem nochmal die Nachfrage: Gibt es, gerade auch für dich Sara, Parallelen zu deinem eigenen Leben, deiner eigenen Biografie?

Sara Fazilat: Naja, ich würde sagen Parallelen gibt immer bei der Entwicklung einer Story, die man erzählt. Beziehungsweise, es ist immer gut, da die Kraft aus sich selbst zu holen und zu wissen, wovon man redet. Aber es ist nicht so, dass das exakt 1:1 ist. Wir haben natürlich verschiedene Bilder gefunden, aber auf jeden Fall kenne ich Rassismus und Diskriminierungserfahrungen und so weiter und habe für mich einen Weg gefunden, damit umzugehen.

Eline Gehring: Ja, das kann ich nur unterstreichen. Francy und ich sind keine PoCs, aber wir sind auf jeden Fall schon händchenhaltend mit einer Frau durch die Straße gelaufen und man mag es nicht glauben, aber selbst in einer Metropole wie Berlin kommt man da manchmal in dunklen Ecken in schwierige Situationen, wenn man auf einen bestimmten Typ Mensch stößt.

Sara Fazilat: Es reicht eigentlich schon, eine Frau zu sein. Da haben wir auch unheimlich viel eingebaut und das ist auch, warum uns das wichtig war, diverse Frauenfiguren zu erzählen, und zwar in Hinsicht auf Alter, Körperformen, vermeintliche Herkunft, Religion und sexuelle Orientierung. Da ist einfach das Frau-Sein allein, das ist schon mal eine Sache für sich – und die anderen Sachen, die dann dazukommen, die addieren das Ganze.

kinofenster.de: Mit welchen Vorurteilen beziehungsweise Stereotypen wolltet ihr spielen und wie wichtig war euch auch, dass sie im Film dann gebrochen werden?

Sara Fazilat: Zum Beispiel das, was wir eben angesprochen hatten, mit den diversen Frauen: Meistens werden Frauenfiguren in der Filmwelt depressiv, halb tot oder nackt erzählt. Da wollten wir irgendwie mal etwas Anderes erzählen. Natürlich ist es auch hinsichtlich des Bechdel-Tests (ein nicht wissenschaftlicher Test, der genutzt werden kann, um Stereotypisierungen weiblicher Figuren in Zum Inhalt: Spielfilmen zu identifizieren und zu beurteilen, Anmerk. d. Red.), – wenn man guckt, dass Frauen halt entweder nichts sagen oder es geht um eine Liebesgeschichte um einen bestimmten Mann und so weiter – da war uns halt wichtig, eine andere Art von Storytelling zu haben, und auch, vor allem: Wie sehen wir Frauen? Also, dass wir zum Beispiel jemanden haben, der auch gleich am Anfang gesetzt ist und aggressiv ist. Dass Frauen aggressiv sein können, dass sie kinky sein können, dass sie ab einem gewissen Alter auch Drogen verkaufen können und so weiter. und nicht immer unsichtbar gemacht werden.

kinofenster.de: Ihr habt zusammen mit Laienschauspieler/-innen gearbeitet. Wie war das? Was haben die Laien von den Profis gelernt und andersrum?

Sara Fazilat: Das war eine bewusste Entscheidung, dass wir das machen möchten. Ich glaube, dass wir alle voneinander gelernt haben. Es ist halt einfach eine andere Art zu arbeiten, wenn man mit Laien-Menschen arbeitet, weil sie einfach dieses Set-Leben nicht gewohnt sind. Dadurch hat man, nimmt man sich aber auch als Team viel mehr Zeit und weiß, ok, für diese eine Zum Inhalt: Szene werden wir viel mehr brauchen.

kinofenster.de: Wieviel Improvisation steckt denn im Film? Also, was für Herausforderungen hat das bei den Dreharbeiten mit sich gebracht?

Eline Gehring: Die improvisatorischen Elemente im Film sind die, in denen wir am Anfang einer Szene wussten: Die Szene muss so anfangen, hat folgenden dramaturgischen Bogen also, ein Mid-Point und hat folgendes Ende. Und was dazwischen passiert, das habe ich erst einmal den Schauspielenden und den Laiendarstellenden überlassen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass wir – manche Sätze habe ich dann mitgeschrieben und gesagt: Das ist toll, das muss fallen! Oder ich hatte einen Satz oder eine Frage in petto. Diese ganzen Aufgaben, die man auch in einem fertig geschriebenen Drehbuch hat, die hatten wir auch. Aber es gab manchmal Sätze, die fallen mussten, wie: "Das Leben ist zu kurz für ein langes Gesicht." Das war uns vorher schon klar, dass der fallen muss.

kinofenster.de: Was ist für Euch persönlich der Kerngedanke des Films?

Sara Fazilat: Natürlich sind wir Filmemacherinnen und natürlich wollen wir auch unterhalten und lieben es auch, unterhalten zu werden. Aber wirklich: dass Diversität eine Qualität ist. Vor allem, weil jetzt seit zwei Jahren dieser ganze Diskurs geführt wird und es kommen immer wieder Wörter wie: Es ist ein Risiko! Es ist eine Herausforderung! Wie sollen wir das bloß machen? Und so weiter. Und ich kann einfach nur sagen: Ich freue mich so sehr, dass uns das bestärkt hat, dass wir das halt machen wollten. Und je nachdem – ist immer so eine blöde Sache, finde ich: Was ist erfolgreich? Was ist ein guter Film? Blablabla – das will ich gar nicht sagen. Aber wenn es daran gemessen wird, was dieser Film erreicht hat, und zwar weltweit auf 48 Filmfestivals zu laufen, darunter Shanghai, einem A-Festival, diverse Preise zu gewinnen, auch in Cambridge, mit der BAFTA ein Mentoring zu machen, in San Francisco ein Panel zu Diversität und Feminismus zu führen und jetzt in der Vorauswahl zum Deutschen Filmpreis zu sein und ins Kino zu kommen – dann ist das für mich einfach solch ein Beweis und das sage ich nicht, um zu sagen, "Der Film ist so geil!", sondern einfach nur zu sagen: Diversität ist eine Qualität und das müssen wir einfach aus der Warte nutzen und damit auch die ganzen Menschen abbilden zu können, die einfach in der Gesellschaft sonst nicht gesehen werden. Und das freut mich einfach und für mich ist das absolut die Kernessenz, weil wir es auch auf so verschiedenen Ebenen zeigen. Und es geht!

kinofenster.de: Vielen Dank für das Gespräch.

Sara Fazilat: Danke auch.

Eline Gehring: Danke schön.