Nach Unterrichtsschluss baumeln die gelockerten Krawatten ihrer Schuluniformen nachlässig am Hals der Mädchen und verleihen ihnen ein leicht aufsässiges Aussehen. Beim anschließenden Wasserspiel im Meer werden sie gar als Kampfgeist signalisierende Stirnbänder zweckentfremdet. Der erste Auftritt der Schwestern Lale, Nur, Ece, Selma und Sonay erfolgt noch als geschlossene Gruppe lachender, schreiender, herumalbernder und umherwirbelnder Kinder und Teenager. So viel Selbstbewusstsein, Vitalität und Zusammenhalt strahlen sonst eigentlich nur Mädchengangs aus.

Gemeinschaft der Schwestern

Die Zum Inhalt: Exposition ist für den Film programmatisch, unterstreicht sie doch die Inszenierung der Regisseurin Deniz Gamze Ergüven: die Schwestern als Kollektiv, eine Solidargemeinschaft gegen die Restriktionen der Familie und patriarchalen Gesellschaft. Lale, die jüngste der Schwestern, positioniert sich von Anfang an als Hauptfigur und Stimme. Sie fungiert nicht nur als Erzählerin aus dem Zum Inhalt: Off, die die Ereignisse rückblickend ordnet, sondern agiert auch innerhalb der Gruppe am zielstrebigsten. Im ersten Teil des Films, bevor die Einheit der Schwestern durch die schnelle Abfolge von Zwangsverheiratungen auseinandergerissen wird, arbeitet das visuelle Konzept noch stark einem Gruppengefühl zwischen den Mädchen zu.

Mustang, Szene (© Weltkino)

Ein Knäuel aus Mädchenkörpern

Immer wieder vereint die Kamera die Schwestern im Bild, aufgereiht nebeneinander sitzend – ob im Auto, auf der Wartebank der Arztpraxis oder in bildfüllenden, eher unübersichtlichen Anordnungen in ihren Zimmern. In diesem vom Blick und der Beurteilung der anderen geschützten Raum setzt Ergüven die Mädchen als einen organischen Körper in Szene: In enger Umarmung und Verknotung lassen sich die Schwestern kaum noch auseinanderhalten. Das Bild füllt sich mit einem Knäuel aus nackten Armen, Beinen, Gesichtern und langen Mädchenhaaren. "Es war das letzte Mal, dass wir alle zusammen waren", kommentiert Lale die Hochzeit von Sonay und Selma. Ein letztes Mal finden die Schwestern als eingeschworene Gemeinschaft im Bild zusammen. Aus einer frontalen Zum Inhalt: Untersicht gefilmt, fängt die Kamera die zum Kreis angeordneten Mädchen ein: fünf Gesichter, Kopf an Kopf, fast wie zusammengewachsen.

Strategien des Widerstands

Unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs entwickeln die Schwestern indes immer stärkere Persönlichkeiten, jede von ihnen findet zu einem individuellen Ausdruck des Widerstands. Sonay, die Älteste, spielt mit großer Raffinesse ein doppeltes Spiel: Vermeintlich anschmiegsam und verträumt, schleicht sie sich nachts aus dem Haus, um heimlich ihren Freund zu treffen. Sie hat sogar Sex, ohne dabei ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Sonay setzt auch als Einzige eine romantische Liebesheirat durch. Selma fügt sich hingegen der arrangierten Ehe und verleiht ihrem Protest eher in kleinen Gesten Ausdruck: indem sie auf der Hochzeitsfeier ihre Traurigkeit offen zur Schau trägt, sich betrinkt und dem Arzt nach der Hochzeitsnacht erzählt, sie habe mit der "ganzen Welt geschlafen".

Unterschiedliche Persönlichkeiten

Ece wiederum rebelliert durch unberechenbares Verhalten: Nachdem sie sich zunächst fügsam gibt, geht sie bald zu riskanten Sabotageakten über, die mitunter selbstzerstörerische Züge tragen. Nach der Verkündigung ihrer Hochzeit beginnt sie sich hemmungslos mit Essen vollzustopfen, provoziert am Esstisch mit zweideutigen Gesten und lässt sich auf spontane sexuelle Begegnungen ein, die jedoch weniger von ihrem Begehren motiviert sind als von einem Bedürfnis nach Grenzüberschreitung. Die Zweitjüngste Nur ist anfangs lediglich Komplizin Lales, entdeckt im Laufe des Films aber eigene Formen des Widerstands. Lale widersetzt sich dem Rollenbild einer (zukünftigen) mustergültigen Ehefrau von Beginn an, indem sie Interessen nachgeht, die für Mädchen eigentlich nicht vorgesehen sind, zum Beispiel Fußball. Unter den Schwestern ist sie die reflektierteste Figur. Sie lernt aus ihren Beobachtungen und eignet sich Kenntnisse an, indem sie etwa heimlich Autofahren lernt, um ihre Flucht vorzubereiten.

Freiräume im Gefängnis

Abgesehen von diesen äußeren Handlungen formuliert der Film auch durch sein visuelles Konzept Widerstandsräume. Obwohl "Mustang" im Grunde an ein Gefängnisdrama erinnert – Gitter vor Fenstern und Eingängen verwandeln das Haus zunehmend in eine Festung –, überwiegt zu Beginn des Films noch eine leichte Stimmung. In ihren Räumen filmt Ergüven die Schwestern immer wieder im warmen Gegenlicht, das durch die Fenster fällt – und damit auch den Assoziationen mit einem Gefängnis entgegenwirkt. Bildausschnitte sind oftmals gewählt, sodass die Begrenzungen zur Außenwelt, die Fenster und Gitter, im ersten Moment nicht sichtbar sind. Durch die Zum Inhalt: Kadrage wirken die Räum subtil vergrößert und offen – erst der Zum Inhalt: Schnitt offenbart ihre Begrenzungen. Körperlich in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt, überschreiten die Schwestern auch in ihrer Fantasie Grenzen. Einmal "inszenieren" Nur und Lale einen Strandausflug: In ihren Badeanzügen liegen sie schwimmend auf ihren im Zimmer ausgebreiteten Matratzen, schnorcheln und suchen Muscheln im Sand.

Mustang, Szene (© Weltkino)

Weibliche Subjektivität

Zum Inhalt: Kleidung spielt im Selbstausdruck der Mädchen eine wichtige Rolle.
Ihre langen Zum Inhalt: weißen Kleider verleihen ihnen, umspielt vom Sommerlicht, zunächst eine ätherische, mädchenhafte Aura. Gleichzeitig kokettieren Sonay und Selma mit ihrer sexuellen Offenheit, wenn sie leicht bekleidet auf der Terrasse vor den Gitterstäben sonnenbaden oder die unförmigen Sackkleider, die sie von der Großmutter verpasst bekommen, mit einem Seitenschlitz "verbessern". Lale versucht, ihren älteren Schwestern spielerisch nachzueifern, indem sie mit Sonays ausgestopftem BH posiert. In der Nachahmung schwingt auch eine kindliche Neugier mit. Heimlich studiert sie das Aufklärungsbuch, das die Tante für die älteren Schwestern rausgelegt hat. Die wiederum zeigen einen erstaunlich offensiven Umgang mit ihrer Sexualität. Sonay spricht unverblümt über ihre sexuellen Erfahrungen, während Ece im Auto ihres Onkels Sex mit einem wildfremden Jungen hat.

Die Perspektive des Films weicht dabei von Anfang bis Ende nicht von der Seite der Schwestern. Nie gibt es einen (patriarchalen) Blick von außen auf das Geschehen. Durch Lales lakonischen, auch etwas frühreifen Tonfall und die konsequente Perspektivierung auf gleichermaßen individuelle wie kollektive Erfahrungen erkundet der Film selbstbestimmte Freiräume im häuslichen Gefängnis, in denen die Mädchen der männlich dominierten Gesellschaft mit vielfältigen Widerstandsgesten begegnen.