Pathos ist ein Privileg der Jugend. Dessen Inszenierung beherrscht der kanadische Regisseur Xavier Dolan auf allen Ebenen. Seine filmischen Strategien erzeugen pausenlos kleinere Attraktionen und Affekte: Zum Inhalt: Großaufnahmen, Zum Inhalt: Popmusik, expressionistische Zum Inhalt: Lichtsetzung, verklärende Zum Inhalt: Farbfilter, expressives Spiel. Im Zentrum dieses Spektakels stehen Mutter und Sohn. Wie schon in seinen bisherigen Filmen beschreibt Dolan in Zum Filmarchiv: "Mommy" einen emotionalen Ausnahmezustand: Die exaltierte Diane, genannt Die, ist eine alleinerziehende Witwe, ihr renitenter Sohn Steve leidet an einer sich gewaltsam äußernden Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung. Im rauen, sehr breiten Quebecer Dialekt liefern sich Die und Steve (in der Originalfassung) lautstarke Streitduelle. Ist das alltägliche Sticheln und Fluchen noch impulsiv und humorvoll, so können die hitzigen Wortgefechte auch schlagartig in extreme Wut- und Gewaltausbrüche von soapartiger Intensität kippen. Sprunghaft und gelegentlich hysterisch wechseln verbale und körperliche Zusammenstöße mit zärtlicher Zuneigung und Versöhnungsmomenten. Dem aufreibenden Schauspiel setzt Dolan statische Nahaufnahmen von den Gesichtern seiner Figuren entgegen. Abrupte Ton- und Tempowechsel unterstreicht er mit einem wirkungsvollen Zum Inhalt: Soundtrack.

Pathetisches Mixtape

Und los geht’s: Steve legt den "Steve+Die 4ever"-Mix auf, den sein verstorbener Vater für die langen Autofahrten an der kalifornischen Küste zusammengestellt hat. Es ertönt "On ne change pas" von der kanadischen Sängerin Céline Dion. Im schwarzen Tanktop, mit blonden, zurückgegelten Haaren und schwarzem Lidstrich beginnt Steve zu tanzen und zu singen. Seine Bewegungen sind zugleich ausgelassen und traumwandlerisch. Xavier Dolan zeigt die Tanz-Performance in gedimmter Beleuchtung, in Rot- und Orangetönen. Feierlich erzeugt das spärliche Licht eine Kerzenlichtstimmung. Auch Die und Kyla stimmen in den Gesang ein, sie tanzen entrückt und enthusiastisch. Neben der Farb- und Lichtgestaltung ist auch der akustische Retrozauber schwelgend, schwärmend und pathetisch. Die Balladen von Céline Dion, Dido oder Lana del Rey überhöhen Alltagszenen, ihr verklärender Dream-Pop besingt den Zauber eines längst verblichenen Glanzes.

Mommy, Szene (© Weltkino)

Kreisende Kamerafahrt

Neben dem nostalgischen Sound klingt in der Musik auch etwas Zukunftsgläubiges an: ein Glaube an die Möglichkeit eines Wandels und an Aufbruchsfantasien. Steves Longboardfahrten in sanft gleitenden Zum Inhalt: Kamerafahrten untermalen seine balletthaften Bewegungen. Seine rhythmischen Hip-Hop-Moves zu einem nicht hörbaren Stück aus riesigen Kopfhörern wiederum sind mit einer melancholischen Piano-Ballade der Counting Crows unterlegt. Gerade weil der akustische Raum nicht einheitlich, sondern brüchig ist, wirken Steves Bewegungen gleichzeitig autonom und zerbrechlich. Später dreht er auf einem leeren Parkplatz mit einem Einkaufwagen Pirouetten. Die Kamera kreist gegenläufig um Steves euphorischen Rausch und erzeugt so ein filmisches Schwindelgefühl.

Kleiner Handlungsspielraum

Xavier Dolan engt den Handlungsspielraum buchstäblich ein. Statt im gewohnten Zum Inhalt: Breitbildformat zeigt er seine Protagonisten in Zum Inhalt: quadratischen Bildkadern, die eine schonungslose Intimität herstellen. Distanzlos rückt die Kamera an Die und Steve heran und erfasst sie in oftmals frontalen Kameraeinstellungen und Close-ups die ihre Physiognomien, ihre Mimik und Gestik fokussieren. Zum Inhalt: Format und Naheinstellungen zielen unmittelbar auf große Gefühle.

Kinofenster

Durch die statischen, frontalen Einstellungen werden die Figuren porträthaft ins Bild gesetzt. Die extremen Nahaufnahmen überhöhen jede Gefühlsregung und stellen sie groß aus. Gleichzeitig isolieren Xaviers klaustrophobische Kompositionen seine Figuren: Nur wenige Einstellungen zeigen zwei Menschen innerhalb eines szenischen Raums. Selbst in den Dialogen werden die Figuren abwechselnd in die Einzelhaft des Bildkaders gesteckt.

Befreiender Formatwechsel

Das kleine Kader rückt Die und Steve in den Mittelpunkt und reißt sie aus ihrem sozialen Kontext: Direkt schauen wir den beiden ins Auge. Die strenge Rahmung engt sie ein und so ist es ein überwältigender Moment der Befreiung, als sich das ungewöhnlich schmale Bild durch einen verwegenen Formatwechsel ausdehnt: Während einer Longboardfahrt läuft "Wonderwall" von Oasis in voller Länge und Lautstärke. Steve streckt seine Arme in die Horizontale, greift nach den Bildrändern und schiebt die schwarzen Balken beiseite. Das Bild weitet sich für einen befreienden Moment der Selbstermächtigung zum Breitbild-Format. Mit dieser Entgrenzung eröffnet er sich nicht nur einen größeren Bewegungsraum, es ändern sich auch die Sehbedingungen der Zuschauenden. Doch auch die neue Freiheit ist nur momenthaft und instabil.

Visuelle Intensität

Auch in der Farbdramaturgie des Films wechseln die Intensitäten: von überwiegend kalten Weiß- und Blautönen und spärlich fahlem Herbstlicht bis strahlend welken Gelbtönen und starkem Gegenlicht, das verklärende Lichtreflexe auf die Linse zaubert. Dolan experimentiert mit Zum Inhalt: artifiziellen Einfärbungen, indem er monochrome Farbfilter in Blau und Grün, Rot und Gelb über seine Filmbilder legt. Abseits der großen Metropolen sind die Innenräume der tristen Vorstadthäuser düster und wirken mit ihren ungeöffneten Umzugskisten provisorisch. Im Kontrast zu den kargen Lebensräumen moduliert die Lichtdramaturgie verstrahlte Farben und die elegischen Zum Inhalt: Zeitlupensequenzen zeigen entrückende Bildunschärfen. Die Schönheit der wie durch Seidenpapier gefilmten Szenen ist nicht zuerst eine äußerliche, sondern steht in enger Beziehung zur Verletzbarkeit von Dolans Figuren. Gerade in der Inszenierung des schmerzhaft Flüchtigen, des Wechselhaften, Unzuverlässigen, keinerlei Orientierung Bietenden formieren sich Pathos und lebendige Unmittelbarkeit des Films, der gerade durch seine Kontraste umso unmittelbarer überwältigt und berührt.