Bernd Ahrbeck hat seit 1994 einen Lehrstuhl der Verhaltensgestörtenpädagogik im Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin inne. Im Interview erläutert er die Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen wie dem 15-jährigen Steve, die Eltern und Pädagogen wie auch die Schülerinnen und Schüler vor große Herausforderungen stellen. Während Steve in Kanada zu Hause von der Nachbarin unterrichtet wird, würden sich in Deutschland Sonderpädagogen mit dem „Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“ um den Jungen kümmern.

Herr Ahrbeck, was verbirgt sich hinter dem Begriff "Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung"?

Darunter fallen Kinder und Jugendliche, die im besonderen Maße in der Schule Probleme bereiten. Deswegen ist der Begriff Verhaltensstörung in diesem Zusammenhang nicht grundsätzlich falsch. Sie stören mit ihrem Verhalten häufig Mitschüler und Lehrer. Aber sie tun es aufgrund ihrer inneren Notlage. Insofern muss der Begriff Verhaltensstörung relativiert werden, weil dahinter eine psychische und soziale Problematik liegt, die häufig auch mit einem erschwerenden sozialen Schicksal verbunden ist, das auf sehr belastende Lebenserfahrungen basiert: Gewalterfahrungen im Elternhaus, sexuelle Übergriffe oder Schädigungen des Selbstwertes. Das heißt, dass ein Großteil der Kinder und Jugendlichen, die unter dem „Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“ subsumiert werden, psychisch sehr belastet, mitunter auch psychisch krank ist. Dies führt zu großen Schwierigkeiten, den Alltag zu bewältigen. Diese Kinder und Jugendlichen kommen mit sich selbst nicht zurecht, aber die Umwelt mit ihnen auch nicht.

Wie wirken sich solche Defizite auf das Lernen und die Integration in den Klassenverband aus?

Das muss differenziert betrachtet werden. Es gibt darunter sehr intelligente Kinder, bei denen die Beeinträchtigungen im Lernprozess nicht im Mittelpunkt stehen. Andere haben hier große Probleme. Häufig stehen sie jedoch am Rande der Klasse, werden abgelehnt und mitunter gehen sie überhaupt nicht mehr zur Schule.

Wie können Pädagogen Kinder und Jugendliche mit diesen Defiziten unterstützen?

Für Lehrerinnen und Lehrer ist der Umgang häufig schwierig, weil die Botschaften der Kinder versteckt und nur schwer zu entschlüsseln sind. Dennoch hat der „Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“ die höchste Integrationsquote: Fast 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen werden bereits jetzt an Regelschulen unterrichtet. Insofern leisten Lehrer Beträchtliches. Aufgrund der Schwere der Beeinträchtigungen halte ich es aber für fatal, wenn die Förderzentren komplett abgeschafft werden. Grundsätzlich können Lehrer und Lehrerinnen mit Ruhe und Verständnis an Regelschulen viel erreichen. Aber es gibt eben auch Schülerinnen und Schüler, bei denen die üblichen pädagogischen Maßnahmen versagen, weil die Problemlagen zu gravierend und überfordernd sind. Dann werden gut ausgebildete Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen benötigt, die gezielt intervenieren können. Manchmal sind dafür auch besondere Settings nötig, temporäre Lerngruppen, Kleinklassen oder spezielle Schulen.

Es sieht aber so aus, als würden diese Förderzentren in der Zukunft abgeschafft.

Das klingt im öffentlichen Diskurs so durch. Darin liegt jedoch eine falsche Interpretation der UN-Konvention, die 2009 ratifiziert wurde mit dem Ziel, die Rechte von Menschen mit Behinderung zu stärken und besser zu positionieren. In Deutschland haben wir für weitere Reformen eine günstige Ausgangslage, da ein Diskriminierungsverbot gegenüber Behinderten bereits im Grundgesetz verankert ist. Außerdem haben wir eine 100-prozentige Beschulung, auch bei schwerer Mehrfachbehinderung. Das ist selbst im europäischen Ausland nicht durchgängig so. Die UN-Konvention verlangt aber keine komplette Aufhebung aller speziellen Einrichtungen. Das würde auch dem nationalen wie internationalen Forschungsstand widersprechen, der ein sehr differenziertes Bild zeichnet. Es gibt kein Land, das auf spezielle Einrichtungen für Schüler mit schweren Verhaltensstörungen verzichtet.

In welchen Bereichen werden die Förderzentren aufgelöst?

Vor allem bei Schülern mit Lernbeeinträchtigungen. Für sie hat sich herausgestellt, dass der gemeinsame Unterricht sehr anregend und lernfördernd sein kann. Es gibt aber auch in dieser Gruppe Kinder und Jugendliche, die sehr sensibel sind und sich schnell sozial isoliert fühlen. Kleinere Gruppen können für sie also doch von Vorteil sein. Zukünftig wird man auf einen bedeutenden Teil der Lernbehinderten-Schulen aber verzichten können. Das betrifft etwa 44 Prozent der als behindert klassifizierten Schüler. Noch einmal: Das Ziel der UN-Konvention ist, dass ein Zugang zum allgemeinen Schulsystem eröffnet wird, nicht aber die komplette Auflösung von Förderzentren.

Stehen nach der Auflösung der Förderzentren Sonderpädagogen in den Regelschulen zur Verfügung?

Ja. Das passiert auch bereits überall. Die einzelnen Bundesländer gehen jedoch mit unterschiedlichem Tempo vor und es besteht keine Einigkeit darüber, wie viele Förderzentren erhalten bleiben sollen. Sowohl Eltern als auch Politiker vertreten diesbezüglich verschiedene Meinungen. Wahlmöglichkeiten sollten unbedingt erhalten bleiben. Aber eines ist jedoch klar: Inklusion wird teurer als ursprünglich gedacht. Eine Gesellschaft, die sich für diesen Schritt entscheidet, muss ihn auch finanziell tragen.

Wie wird sich die Ausbildung von zukünftigen Lehrern verändern?

Sämtliche Lehrerinnen und Lehrer sollen mehr sonderpädagogische Inhalte lernen. Das ist unbedingt notwendig. Es besteht aber die Gefahr, dass neue Lücken entstehen, zum Beispiel wenn die Unterrichtsfächer dadurch geschwächt werden. Völlig klar jedoch ist, dass auf eine hochspezialisierte und differenzierte sonderpädagogische Ausbildung nicht verzichtet werden kann. Wir brauchen eher mehr Sonderpädagogen als bisher.