Alice Rohrwacher wurde 1981 in Fiesole, Italien geboren und hat zunächst als Musikerin und Dokumentarfilmerin gearbeitet. Ihr Regiedebüt "Corpo Celeste" von 2011, für das sie auch das Zum Inhalt: Drehbuch schrieb, wurde auf Festivals weltweit gezeigt, kam in Deutschland aber nie in die Kinos. Zum externen Inhalt: Land der Wunder (öffnet im neuen Tab) lief dieses Jahr im Wettbewerb von Cannes, wo er mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde.

Frau Rohrwacher, Sie haben "Land der Wunder" in der Region Zum Inhalt: gedreht, in der Sie aufgewachsen sind. Haben Sie autobiografische Bezüge in die Geschichte einfließen lassen?

Alice Rohrwacher:
Es hat mich nie interessiert, einen autobiografischen Film zu machen. "Land der Wunder" wurde aber in gewisser Weise zu einem autobiografischen Film, weil mich meine Charaktere so lange begleitet haben, dass sie sich am Ende wie meine Familie anfühlten. Der Film handelt nicht von meiner Kindheit, ist aber sehr persönlich. Ich hatte durch meine Herkunft einen persönlichen Bezug zu der Gegend, was mir geholfen hat, in die Seele dieses Ortes einzutauchen.

Können Sie erklären, was diese Region so besonders macht?

Die Landschaft ist noch unberührt. All die umliegenden Regionen haben sich in den letzten Jahren durch den Tourismus stark verändert. Sie erinnern heute an Themenparks, in denen die Traditionen für Touristen am Leben erhalten werden. In der Region, in der mein Film spielt, sind diese Traditionen dagegen noch sehr lebendig, auch wenn schleichende Veränderungen zu beobachten sind. Ich wollte über die Musealisierung unserer Geschichte sprechen. Wenn Menschen die Schönheit einer Sache erkennen, wollen sie diese entweder zerstören oder sie in eine Kiste stecken und mit einem Etikett versehen. Ich möchte die Schönheit zur Geltung bringen.

Warum spezifizieren Sie den Ort und die Zeit Ihrer Geschichte nicht?

Genau genommen spielt "Land der Wunder" nicht in einer Region, sondern im Grenzgebiet zwischen Umbrien, Latium und der Toskana. Wir müssen uns an die Grenzen begeben, um das Zentrum einer Sache besser sehen und verstehen zu können. An diesen Übergängen ist die Natur noch wild, die Veränderungen sind daher umso spürbarer. Das Jahr spielt keine große Rolle. Es war mir wichtiger, dass das Motiv des Umbruchs, der Revolution, die Zuschauenden zum Nachdenken über die Geschichte anregt. Wir erschaffen im Film eine zeitlose Welt. Aber ihr Ausgangspunkt ist die Gegenwart.

Wollten Sie mit dieser Idylle eine gesellschaftliche Utopie entwerfen?

Ich sehe den Ort nicht als idyllisch, ganz im Gegenteil. Ich wollte dem Film weder einen tragischen noch einen romantischen Grundton verleihen. Es ging mir um eine Zartheit, die Zartheit des Ortes und unserer Leben.

Die Zartheit zeigt sich auch in der Zum Inhalt: Lichtgebung. War es schwierig, die natürlichen Lichtverhältnisse mit der Kamera einzufangen?

Das Licht erzählt eine von vielen Geschichten im Film. Er beginnt im Dunkeln mit dem künstlichen Licht der Scheinwerfer, das die Handlung in Gang setzt. Wir haben dem Gegensatz von künstlichem und natürlichem Licht, Schatten und Realität viel Aufmerksamkeit gewidmet, aber diese Geschichte sollte subtil erzählt werden. Naturlicht ist nicht kontrollierbar, weswegen heute kaum noch so gearbeitet wird. Es erfordert viel Zeit und Geduld. Gleiches gilt für die Arbeit mit Tieren. Ich liebe dieses Überraschungsmoment.

Warum beschreiben Sie die Arbeit mit den Bienen so minutiös, fast Zum Inhalt: dokumentarisch?

Mir war es wichtig zu zeigen, dass die Geschichte, Gefühle und Arbeit im Zusammenhang mit einem Körper stehen. Alles ist organisch miteinander verbunden.

Und wie würden Sie die Familie von Gelsomina beschreiben?

Die Schönheit der Arabeske, so hat es die Schriftstellerin Elsa Morante einmal gesagt, lässt sich nicht anhand ihrer Details beschreiben. Man muss sie als Ganzes betrachten. Gelsominas Familie ist wie eine Arabeske. Versucht man die Beziehungen der Figuren zueinander zu erklären, verliert sich der Zauber. Die Menschen sind wahrhaftig, aber lassen sich nicht analysieren. Sie leben auf dem Land, sind aber keine typische Bauernfamilie. Sie leben wie Hippies, aber haben ihre Ideale verloren. Auch deswegen wollte ich die politische Vergangenheit der Eltern nicht erklären. Wir können uns viel vorstellen. Ihre Imagination unterscheidet sich von meiner Imagination. Der Film liegt irgendwo dazwischen. Die Vorstellungskraft des Menschen ist wie ein Muskel, den wir ständig trainieren müssen.

Wir sehen im Film, wie Gelsomina sich langsam von ihrem Vater emanzipiert. Wolfgang hat sie für eine Rolle vorgesehen, die sie schließlich auch akzeptiert. Aber zu ihren eigenen Bedingungen.

Gelsomina und Wolfgang sind die Hauptfiguren, aber es ist ihre Beziehung, die im Mittelpunkt des Films steht. Wir lernen Gelsomina durch ihr Verhältnis zum Vater, zu ihrer Schwester, zu Martin und zu Milly Catena kennen. Ich verstehe den Begriff Zeit nicht geschichtlich, sondern im Sinne des menschlichen Bewusstseins. Für mich spielt "Land der Wunder" in einer Zeit vor der Psychoanalyse. Wir wollen heutzutage zu viel erklären.

Diese Einfachheit ist die hervorstechendste Eigenschaft Ihres Films. Hatten Sie während der Dreharbeiten ein junges Publikum vor Augen?

Viele Menschen haben an dem Film mitgewirkt, alle ihre Ansichten flossen in die Arbeit ein. Ich würde "Land der Wunder" mit einem Brunnen vergleichen. Man kann ihn aus der Entfernung betrachten und seine Bauweise bewundern, man kann seine eigene Reflexion auf der Wasseroberfläche beobachten oder man kann einen Eimer in den Brunnen hinablassen, um herauszufinden, wie tief er ist. Ein guter Film bietet den Zuschauenden all diese Möglichkeiten. Es ist ein Film für Kinder von 0 bis 100 Jahren.