Kategorie: Interview
"Jeder könnte sich in dieser Lage wiederfinden"
Leid der Zivilbevölkerung: Regisseur Philippe Van Leeuw erläutert, warum er "Innen Leben" gedreht und wie er das Thema Krieg inszeniert hat.
Philippe Van Leeuw, 1954 in Brüssel geboren, besuchte zunächst die dortige Filmschule INSAS, bevor er in Los Angeles am American Film Institute Kamera studierte. Zurück in Europa war er als Kameramann für diverse Zum Inhalt: Dokumentarfilme sowie in der Werbung tätig. Sein Spielfilmdebüt als Kameramann legte er 1997 mit "Das Leben Jesu" von Bruno Dumont vor. Seitdem widmet er sich fiktionalen Stoffen. Bei "The Day God Walked Away" führte er 2009 erstmals Regie. 2012 arbeitete er als Kameramann mit dem libanesischem Filmemacher Mahmoud Hojeij für dessen Film "Stable Unstable" zusammen. Zum Filmarchiv: "Innen Leben" ist Philippe Van Leeuws zweiter Spielfilm als Regisseur.
"Innen Leben" erzählt vom Krieg in Syrien aus der Sicht einer durchschnittlichen Familie, die eingeschlossen in ihrer Wohnung ausharren muss. Sie selbst sind Belgier und leben weit weg von Syrien in Paris. Wie kam Ihnen die Idee zu diesem Film?
Der Auslöser war die Geschichte einer syrischen Kameraoperatorin. Als ich 2012 im Libanon als Kameramann arbeitete, erzählte sie mir von ihrem Vater, der seit drei Wochen in seiner Wohnung in Aleppo festsaß, ohne eine Möglichkeit zu kommunizieren. Mich trieben die Bilder des Bürgerkriegs in Syrien schon länger um. Ich verspürte den dringenden Wunsch aktiv zu werden und die Berichterstattung der Medien um die Perspektive der Zivilbevölkerung zu erweitern. Durch die Geschichte des Vaters fand ich einen Ansatzpunkt. Jeder könnte sich in dieser Lage wiederfinden. Ich kannte durch meine Aufenthalte im Libanon die Menschen und Region bereits recht gut. Für das Drehbuch habe ich mich also einfach in diese Rolle hineinversetzt und mir vorgestellt, wie ich reagieren würde.
Warum ist der Film auf nur einen Schauplatz und zudem auf eine Zeitspanne von 24 Stunden beschränkt?
Abgesehen vom tragenden Bild des eingeschlossenen Menschen hatte diese Beschränkung praktische Gründe. Die Konzentration der Handlung auf einen Zum Inhalt: Ort, einen Tag und eine Nacht hat es mir ermöglicht, den Film schnell zu drehen. Ich wollte rascher auf das Zeitgeschehen reagieren als bei meinem ersten Film, für den ich zehn Jahre gebraucht habe. Er wurde erst lange nach dem Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda fertig. Die Produktion von "Innen Leben" hat dennoch drei Jahre gedauert. Unglücklicherweise ist der Krieg in Syrien immer noch nicht vorbei.
Welche Wirkung wollten Sie mit der Zum Inhalt: Inszenierung als Kammerspielfilm erzeugen?
Mit einem Zum Inhalt: Kammerspiel konnte ich konkret werden und auf einfache Weise gleichzeitig ein Gefühl von Universalität erzeugen. Zum Beispiel musste die Wohnung in einem arabischen Kontext authentisch wirken, aber so Zum Inhalt: eingerichtet sein, dass wir als Europäer ebenfalls Bekanntes in ihr finden. Auch durch die Toneffekte entfaltet das Kammerspiel eine besondere Wirkung. Ob Schüsse von Scharfschützen oder der Knall einer Autobombe, die Gewalt des Krieges wird im Kino durch den Zum Inhalt: Ton unmittelbar erfahrbar, ohne dass man Gefechte nachstellen muss und Gefahr läuft, dass sie inszeniert wirken.
Auch innerhalb der Wohnung arbeiten Sie mit dem Off-Ton und zeigen Gewalt nie direkt, etwa in der Vergewaltigungsszene.
Das ist eine Frage der Authentizität. Eine Inszenierung birgt das Risiko, theatralisch oder voyeuristisch zu werden. Ähnlich wie das Kriegsgeschehen draußen physisch allein durch den Ton vermittelt wird, werden Halimas Angst, Schmerz und Mut in der Großaufnahme ihres Gesichts sichtbar. Ich versuche stets, so wenig wie möglich Konkretes zu zeigen.
"Innen Leben" ist eine belgisch-französisch-libanesische Koproduktion mit einem internationalen Team. Wie hat sich die Zusammenarbeit gestaltet?
Nach Syrien hat man als ausländisches Filmteam keinen Zugang, weshalb wir den Film im benachbarten Beirut gedreht haben. Nicht nur weil der soziokulturelle Kontext ähnlich ist, sondern weil es von dort aus möglich war, mit Syrern zusammenzuarbeiten. Obwohl die Schauspieler aus unterschiedlichen Ländern kommen – Hiam Abbass, die die Mutter spielt, ist Palästinenserin, die Darstellerin der Halima ist Libanesin, der Schwiegervater und die Kinder sind Syrer –, teilen sie alle die Grunderfahrung des Krieges oder des bewaffneten Konflikts. Sie teilen außerdem die gleiche Sprache und Kultur, aber nicht unbedingt ihre Ansichten. Wir haben vor dem Dreh intensiv geprobt, um wunde Punkte auszuloten. Das hat ein harmonisches Zusammenspiel ermöglicht, aber auch etwa dazu geführt, dass die beiden Eindringlinge im Film keinem Lager eindeutig zuzuordnen sind.
Wie verhalten sich die Rollen von Mann und Frau in "Innen Leben" zueinander?
Die Geschlechterverhältnisse sind in der syrischen Gesellschaft klar definiert und unterscheiden sich deutlich voneinander. Doch das Selbstverständnis der männlichen Figuren im Film wurde durch den Krieg erschüttert. Sie kämpfen mit widersprüchlichen Gefühlen. Der Schwiegervater ist ein gebrochener Mann. Alles, woran er einst geglaubt hat, ist in sich zusammengefallen. Auch Halimas Mann steht dafür exemplarisch. Einerseits will er aus Syrien flüchten, andererseits schämt er sich dafür. Ich glaube außerdem, dass Vergewaltigung im Krieg eine gezielt eingesetzte Waffe ist. Das mag archaisch klingen, aber die Integrität und (Selbst-)Achtung der Frauen wird zerstört, auch damit ihre Männer im Kampf der Mut verlässt. In "Innen Leben" entwickeln die Frauen allerdings ungeheure Kräfte: Sie lassen sich von äußeren Einflüssen nicht ablenken, um ihre Familie, ihr Heim zu schützen. Sie repräsentieren nach wie vor Halt und Stabilität in der Gesellschaft.
Welche Wirkung kann ein Film wie "Innen Leben" auf ein europäisches Publikum haben, insbesondere auf ein jüngeres Publikum?
Mit "Innen Leben" habe ich bewusst versucht, Empathie für ganz gewöhnliche Menschen zu erzeugen, mit denen wir uns alle identifizieren können. In den Medien werden meist nur extreme Bilder und Geschichten vom Krieg vermittelt. "Innen Leben" gibt all jenen ein Gesicht, die flüchten müssen und hier in Europa teils schlecht bzw. mit Unverständnis empfangen werden. Zugleich bietet der Film einen Schlüssel, um das Leid unserer eigenen Familien im Zweiten Weltkrieg oder in anderen modernen Kriegen und kriegerischen Konflikten zu begreifen – ob in Jugoslawien, im Nahen Osten oder anderswo. Sie haben ebenso gelitten und wir würden heute und in Zukunft alle auf ähnliche Weise leiden. Doch egal wie verwundbar und wehrlos wir sein mögen, die Figur der Halima zeigt, dass Mut keine Frage von Kraft oder Macht ist und man seine Würde behalten kann.