Unter den Prämissen einer "sozialistischen Filmkunst" gab es in den Ländern des Ostblocks zahlreiche Tabus, Ausblendungen und Verdrängungen. In höherem Maße noch als Literatur und Theater unterlag das Kino den Repräsentationszwängen einer Gesellschaft, deren Ideologie die Überwindung alles "Gestrigen" und "Rückschrittlichen" für sich proklamierte. In diesem Selbstdarstellungsspektrum war wenig Platz für Aspekte der Lebenswirklichkeit, die nicht ausdrücklich dem Fortschritt zu dienen schienen oder gar als „untypisch“ für das Gemeinwesen galten. Missliebige Jugendkulturen, Kriminalität, soziale Randständigkeit aller Art oder von der "Norm" abweichende Sexualität kamen bei Kino- und Fernsehproduktionen des sozialistischen Lagers nur selten vor.

Gesellschaftliche Randbereiche sind tabu

Stalker

Stalker, Szene (© www.skywalking.com)

Zu diesen ignorierten oder marginalisierten Bereichen gehörten neben Suchtverhalten, Alter, Selbstmord, Tod auch die Themen Krankheit und Behinderung. Bis 1989 bestätigten Ausnahmen diese Regel. Wobei prinzipiell im und in den Grenzbereichen der offiziellen Bilderproduktion – wie bei Kurz- und Studentenfilmen oder im künstlerischen Underground – mehr dieser Ausnahmen zu finden sind. Im Spielfilm gibt es insgesamt nur sehr wenige Beispiele für die Thematisierung körperlicher oder geistiger Behinderungen.

Behinderung als gesellschaftliche Allegorie

Dass im Index des Grundlagenwerkes "Bildstörungen. Kranke und Behinderte im Spielfilm" von Stefan Heiner und Enzo Gruber unter 178 aufgelisteten narrativen Filmen nur ein einziges Werk aus dem gesamten einstigen Ostblock aufgelistet wird (Lothar Warnekes DEFA-Produktion "Die Beunruhigung" aus dem Jahr 1981), hat mindestens zwei Gründe: Einerseits der bis heute unzulängliche Forschungsstand, andererseits, dass es im Vergleich zum Westen hier tatsächlich nur sehr wenige Entdeckungen zu machen gibt. Kommen Behinderungen überhaupt einmal in Spielfilmhandlungen vor, dann meist bei Nebenfiguren, die den Helden lediglich zur besseren Charakterisierung zur Seite gestellt werden. Ein eigenständiges psychologisches Profil wird ihnen kaum zugestanden. Ihre Funktion ist meist allegorischer Art, sie stehen für gesellschaftliche Phänomene.

Denunziation und historische Gleichnisse

Rückwärtslaufen kann ich auch

Rückwärtslaufen kann ich auch, Szene (© DEFA-Stiftung/Dieter Jaeger)

In Egon Günthers "Der Dritte" (DDR 1972) spielt Armin Mueller-Stahl einen blinden Musiker, der aus Verbitterung über die ausbleibende Anerkennung in den Westen flieht und seine Frau mit dem gemeinsamen Kind zurücklässt. Die Blindheit ist hier als soziale Verantwortungslosigkeit und damit durchaus als Denunziation wörtlich zu nehmen. Andrei Tarkowski stellt seinem Titelhelden in Zum Filmarchiv: "Stalker" (UdSSR 1979) eine vermutlich autistische, mit seherischen Eigenschaften ausgestattete Tochter zur Seite, die allerdings nur in der Rahmenhandlung auftaucht. Das "Äffchen" genannte Kind agiert als somnambuler Schutzengel, erscheint dabei in einer aus den Fugen geratenen Welt gleichzeitig als personalisiertes Hoffnungsprinzip. In apokalyptisch wirkenden Szenen der Zum Inhalt: Künstlerbiografie "Csontváry" (Ungarn 1980) von Zoltán Huszárik werden Mehrfachbehinderte wie Vieh gehalten und sexuell missbraucht. Die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert angesiedelte Handlung ist unschwer als Überschreibung realsozialistischer beziehungsweise stalinistischer Erfahrungen entschlüsselbar. Die Behinderten stehen stellvertretend für alle ausgegrenzten und diskriminierten Bevölkerungsgruppen.

Erste ernsthafte Annäherungsversuche

Ab Ende der 1970er-Jahre näherten sich auf sensible Weise mehrere sehenswerte dokumentarische Zum Inhalt: Kurzfilme aus verschiedenen osteuropäischen Ländern behinderten Menschen und deren Lebenswelten. Damit schufen sie die Basis für erfolgreiche Langspielfilme der jüngsten Zeit. Die Tschechin Helena Třeštíková porträtierte 1979 in "Dotek světla" (Berührung des Lichts) eine Gruppe blinder Kinder und machte sich mit deren Wahrnehmungsspektrum vertraut. "Pastir na tocku" (Der Schäfer und sein Karren) von Dobri Janevski (Jugoslawien 1982) zeigte einen gelähmten Mann, der trotz massiver körperlicher Einschränkungen seine Arbeit als Hüter der dörflichen Schafherde wahrnehmen kann.

Bei "Dom Nr. 8" (Haus Nr. 8) des Bulgaren Nikolai Volev dürfte es sich um einen der radikalsten Kurzfilme zum Thema handeln. 1989 gedreht, wurden hier die katastrophalen Zustände in einem Heim für geistig und körperlich behinderte Jugendliche auf sehr zugespitzte Weise bloßgelegt. Die Zöglinge unterliegen einem umfassenden militärischen Drill. Statt therapeutischer Maßnahmen gibt es Fahnenappelle und Marschübungen. Und immer wieder wird das berühmte sowjetische Kinderlied "Pust wsegda budet solnze" ("Immer lebe die Sonne") gesungen, dessen Pathos wie ein höhnischer Kommentar zu den dokumentierten Abläufen erscheint.

Nach der politischen Zensur

Den Wind auf der Haut spüren

Den Wind auf der Haut spüren, Szene (© DEFA-Stiftung/Peter Milinski)

In den Jahren 1989/90 entstanden auffällig viele, nun auch längere Filme über von Behinderungen betroffene Menschen. Offenbar hatte sich durch die jahrzehntelangen Einschränkungen bei der Themenwahl ein Stau an entsprechenden Sujets aufgebaut, der sich nun, nach Abschaffung der politischen Zensur, seine Bahn brach. Im DEFA-Spielfilm "Rückwärtslaufen kann ich auch" erzählte der Regisseur Karl-Heinz Lotz von den letztlich scheiternden Versuchen einer Familie, ihre Tochter unter nicht behinderten Mitschülern am Schulunterricht teilhaben zu lassen. In dem ebenfalls 1990 im DEFA-Dokumentarfilmstudio realisierten "Den Wind auf der Haut spüren" gab Gitta Nickel einen komplexen Einblick in das Leben eines jungen querschnittsgelähmten Mannes.

Im selben Jahr entstand in Polen der einstündige "Nienormalni" (Die Unnormalen) von Jacek Bławut – bei dem sich die Insassen eines Kinderheims für Behinderte faktisch selbst spielten. Die Ankunft eines neuen Musiklehrers sorgt für einen ungeahnten Aufruhr unter den bis dahin mehr oder weniger vor sich hin dämmernden "Patienten" und zeigt, welches Potenzial in den Weggeschlossenen schlummern. Ohne die Vorleistung dieses mehrfach preisgekrönten Films wären die Erfolge zeitgenössischer polnischer Werke wie das Blindheits-Drama "Imagine" von Andrzej Jakimowski (2012) oder Zum Filmarchiv: "In meinem Kopf ein Universum" vielleicht nicht denkbar.

Ein Ende der Ausgrenzung

So erweist sich die Sensibilisierung für nicht in körperliche oder intellektuelle Normen passende Filmhelden als ein langwieriger Prozess mit vielen Zwischenkapiteln. Zwar profitieren auch die gegenwärtigen osteuropäischen Filme in ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz von westlichen Filmen wie , doch resultieren sie in mindestens gleichem Maße auch aus der eigenen historischen Beharrlichkeit, die Ausgrenzung von Außenseitern zumindest filmisch zu überwinden. Der 2014 in Cottbus mit dem Hauptpreis ausgezeichnete "Klass korrektsii" (Die Korrekturklasse) von Iwan Twerdowski (Russland 2014) macht Hoffnung, dass in dieser Hinsicht selbst im politisch konservativen Russland unter Wladimir Putin etwas in Bewegung kommt.