Kategorie: Interview
"Ich entwickle die Filmsprache stets aus dem Inhalt"
Thomas Stuber erläutert, wie er die besondere Stimmung von Clemens Meyers gleichnamiger Kurzgeschichte filmästhetisch umgesetzt hat.
Nach dem Abitur studierte Thomas Stuber Medien/Szenische Regie in Ludwigsburg. In dieser Zeit entstand der Spielfilm "Teenage Angst" , der 2008 auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin in der Sektion "Perspektive Deutsche Kino" Premiere feierte. 2012 adaptierte er Clemens Meyers Kurzgeschichte "Von Hunden und Pferden". Daraus entstand eine Zusammenarbeit mit dem Leipziger Autor, die sich mit "Herbert" (2015) und Zum Filmarchiv: "In den Gängen" (2018) fortsetzte.
Herr Stuber, Sie haben mit "In den Gängen" eine Kurzgeschichte von Clemens Meyer Zum Inhalt: adaptiert. Was hat Sie an dem Stoff gereizt?
Vor einigen Jahren las ich Clemens Meyers Kurzgeschichten-Band "Die Nacht, die Lichter" (2008). "In den Gängen" hat mich sofort in den Bann gezogen und wirkte lange nach. Mich faszinierte die Atmosphäre in dem nächtlichen Großmarkt ebenso wie die hochpoetische Sprache. Die großen Fragen des Lebens werden in kurzen Dialogsätzen behandelt.
"In den Gängen" ist mittlerweile der dritte gemeinsame Film mit Clemens Meyer. Was ist das Besondere an Ihrer Zusammenarbeit?
2012 wollte ich seine Kurzgeschichte "Von Hunden und Pferden" verfilmen. Wir kannten uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber da er der Urheber war, bat ich ihn um Einverständnis. Er mochte das Zum Inhalt: Drehbuch, das ich entwickelt hatte, und übernahm einen Zum Inhalt: Cameo-Auftritt. Schließlich schrieben wir den Spielfilm "Herbert" (2015), wobei es sich um ein Originaldrehbuch ohne literarische Vorlage handelt. Beim Schreiben gehen wir grundsätzlich verschieden heran. Clemens beschreibt Räume und Figuren äußerst detailliert, der Prosa ähnlich. Ich hingegen bringe das Drehbuchhandwerk mit. So ergänzen wir uns sehr gut. Über die Arbeit sind wir Freunde geworden. An den Cameo-Auftritten hält Clemens übrigens nach wie vor fest.
Wie gestaltet sich der Prozess des gemeinsamen Schreibens?
Erst einmal wird stundenlang geredet. Spätabends kann daraus eine Zum Inhalt: Szene entstanden sein, die wir dann aufschreiben. Mittlerweile haben wir auch eine Folge für einen Rostocker "Polizeiruf" entwickelt und einen Wiesbadener "Tatort" geschrieben.
Wie lange dauerte es, bis Sie sich über die Form von "In den Gängen" einig waren?
Das hat Jahre gedauert. Wir sind beim Schreiben in zahlreiche Sackgassen geraten und mussten wieder von vorne anfangen. Ich habe kürzlich Lutz Seilers Roman "Kruso" adaptiert. Wenn man einen Roman als Vorlage für einen Film wählt, geht es um die Kunst der Reduktion. Bei einer Kurzgeschichte ist es umgekehrt, man muss hinzuerfinden. Das mag ich grundsätzlich gern, allerdings ist es bei Clemens’ Prosa, die mit Andeutungen und Ellipsen arbeitet, eine Herausforderung. Zu viel Eindeutigkeit würde der Geschichte nicht gerecht werden, zugleich muss man Konflikte visualisieren. Was treibt die Figur an? Reduziert man die Geschichte aber auf die Synopsis – ein junger Arbeiter verliebt sich in eine verheiratete Kollegin, die von ihrem Mann schlecht behandelt wird – besteht die Gefahr, dass man bei einem kitschigen TV-Drama landet. Und das war das letzte, was wir wollten.
Der Wikipedia-Eintrag zu Ihrem Film klassifiziert "In den Gängen" als Zum Inhalt: Melodram. Aufgrund der Konzentration auf einen Raum hoben einige Filmkritiker hervor, dass Sie ein Zum Inhalt: Kammerspiel gedreht hätten. In welchem Zum Inhalt: Genre verorten Sie den Film?
Bei der Planung des Films spielte es keine Rolle, um welches Genre es sich handelt. Viel wichtiger war, wie die Atmosphäre der Kurzgeschichte übersetzt werden kann. Kammerspiel und Melodram schließen einander nicht aus. Ich bin ein großer Fan des Melodrams. Douglas Sirk, der hier in Leipzig als Intendant am Alten Theater wirkte, hat in Hollywood große Melodramen inszeniert. Rainer Werner Fassbinder illustrierte in den 70er-Jahren das Innenleben von Figuren, die am Rand stehen. Das trifft auch auf "In den Gängen" zu.
Die Kameraführung unterstützt dies sehr deutlich.
Das Leben der Protagonisten spielt sich in sehr engen Bahnen ab – das spiegelt der Arbeitsprozess im Großmarkt. Dabei wurden die Figuren so Zum Inhalt: kadriert, dass sie sehr klein wirken. Sie befinden sich häufig unten am Rand. Das Bildformat 1:1,66 leistet dazu ein Übriges. Es wirkt heute etwas antiquiert, denn man nutzt beim Drehen heutzutage Zum Inhalt: Breitwandformate. Bei "In den Gängen" wirken die Figuren sehr eingeengt. Ich entwickle die Filmsprache stets aus dem Inhalt.
Aufgrund des Filmtempos brechen Sie mit der aktuellen Rezeptionsästhetik. Warum?
Das Drehbuch hat 88 Seiten. Man geht davon aus, dass eine Seite Pi mal Daumen eine Filmminute ergibt. Im Rohschnitt waren es aber 145 Minuten. Die Endfassung ist zwei Stunden lang. Trotzdem gab es während des Zum Inhalt: Schneidens lange Diskussionen. Ich habe dem Cutter gesagt, dass ich keine schnellen Schnitte möchte – die Langsamkeit des Films ist bewusst gesetzt. Darauf muss man sich einlassen, um die nächtliche Atmosphäre des Großmarktes und das Innenleben der Figuren nachzuvollziehen.
Ein Großmarkt symbolisiert häufig die Konsumwelt. Haben Sie diesen Aspekt bewusst ausgelassen?
Ja, das wäre eine andere Geschichte. Der Großmarkt repräsentiert bei "In den Gängen" keine Glitzerwelt. Es geht um einen spezifischen Ort am Rande der Gesellschaft, um proletarischen Alltag, der heutzutage im Kino kaum noch vorkommt. Es gibt im Film auch keine Hinweise, in welcher Stadt sich der Markt befindet. Wer allerdings genau hinsieht, entdeckt an dem Display eines Nachtbusses die Endhaltestelle, die in Leipzig liegt. Es könnte aber jede andere ostdeutsche Stadt sein – Chemnitz oder Halle. Prägender als der Ort ist die zeitliche Ebene, die klar in der Nachwende verortet werden kann.
Welche Konsequenzen hat die zeitliche Spezifik für die Figuren?
Bruno ist der Älteste, er hat mit dem Untergang der DDR einen biografischen Bruch erlebt. Er musste neu anfangen und fühlt sich abgehängt. Christian und Marion sind zwar jünger, und damit weniger durch die DDR geprägt. Aber sie wurden durch Erfahrungen ihrer Eltern sozialisiert. Sie fühlen sich gesellschaftlich ebenfalls nicht zugehörig. Sie schaffen sich im Großmarkt eine Enklave und schotten sich gegen die Gesellschaft ab, die sie als kalt empfinden.
Was können Jugendliche durch Ihren Film lernen?
Als Filmemacher möchte ich mitgeben, dass der Kinofilm seine Kraft auf der Leinwand entfaltet. Das gemeinsame Erleben der emotionalen Höhen und Tiefen der Figuren finde ich sehr wichtig. "In den Gängen" ist ein humanistischer Film. Ich wünsche mir, dass sich meine Liebe zu den Figuren auf die Zuschauer überträgt. Empathie ist unerlässlich für ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander.