Kategorie: Interview
"Jetzt ist die Zeit, um wieder so einen Film zu machen"
Regisseur Edward Berger erzählt im Interview, was für ihn den Ausschlag gegeben hat, Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues neu und in deutscher Sprache zu verfilmen - und worin er die Zeitlosigkeit des Stoffes sieht.
Edward Berger, 1970 in Wolfsburg geboren, studierte an der Tisch School of the Arts in New York Regie. Er wirkte über die US-amerikanische Independent-Produktionsfirma Good Machine bei Filmen von Ang Lee und Todd Haynes mit. 2012 wurde sein Zum Inhalt: Spielfilm "Ein guter Sommer" mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, das Drama "Jack" (DE 2014) erhielt den Deutschen Filmpreis in Silber für den Besten Spielfilm. Die britische Miniserie "Patrick Melrose" (USA/GB 2018) gewann mehrere BAFTAs und wurde für den Prime Time Emmy nominiert. Anlässlich des Kinostarts der Neuadaption von Im Westen nichts Neues, die als deutscher Beitrag für die Oscars® eingereicht wurde, sprach kinofenster.de mit ihm über die Aktualität des Romans von Erich Maria Remarque.
kinofenster.de: Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues von 1928 gilt als bedeutendster deutscher Antikriegsroman. Ihre Verfilmung ist die erste in deutscher Sprache. Wie erklären Sie sich, dass das Buch nicht schon früher auf Deutsch verfilmt wurde?
Edward Berger: Ein Grund ist sicherlich, dass der Roman bereits 1930 – also kurz nach seinem Erscheinen – in den USA adaptiert wurde. Und dieser wahnsinnig gut gemachte und zurecht sehr berühmte Film ist ein Erbe, das lange Zeit Maßstäbe gesetzt hat. Außerdem ist es natürlich nicht ganz billig, einen solchen Stoff zu verfilmen. In Deutschland besteht längst nicht immer die Möglichkeit, so aufwendige Filmprojekte zu verwirklichen. Als sich die Chance dafür bot, war es für uns evident, dass man dieses Buch, das zu unserer Kultur gehört und das für das Kino sozusagen seit 90 Jahren brach gelegen hat, auf neue Weise und auf Deutsch verfilmen muss.
kinofenster.de: Inwieweit haben aktuelle politische Entwicklungen für Ihre Idee, den Roman zu verfilmen, eine Rolle gespielt? Haben Sie eine besondere Dringlichkeit empfunden?
Edward Berger: Der Überfall auf die Ukraine verleiht dem Film sicher eine zusätzliche Aktualität, allerdings haben die Dreharbeiten schon vorher stattgefunden. Auf der Welt herrscht jedoch immer wieder Krieg. Insofern war der Roman auch bereits vor dem Konflikt in der Ukraine relevant. Trotzdem haben aktuelle Entwicklungen für uns eine große Rolle gespielt: Als wir mit der Vorbereitung des Films begonnen haben, waren Trump und Putin an der Macht. Viele Wahlen, wie die in Ungarn von Orbán, wurden von rechts außen bestimmt, in Deutschland erstarkte die AfD. Die Verfilmung ist auch aus dem Gefühl heraus entstanden, dass sich eine veränderte aggressivere Stimmung in Nachrichten und Politik, aber auch in die Gesellschaft eingeschlichen hat. Plötzlich war ein neu aufkommender Nationalismus, eine Migrantenfeindlichkeit und eine Skepsis gegenüber allem "Fremden" zu spüren, in der U-Bahn – überall. Mit einem Mal wurden Institutionen in Frage gestellt, die uns eine lange Friedenszeit beschert und gesichert hatten. Das war der ausschlaggebende Grund, warum wir sagten: Jetzt ist die Zeit, um wieder einen derartigen Film zu machen – weil in unserem Alltag ein ungemütliches Klima Einzug hält, das uns nicht gefällt.
kinofenster.de: Als der Roman veröffentlicht wurde und seine Erstverfilmung in die Kinos kam, lag der Erste Weltkrieg nur wenige Jahre zurück. Seither haben sich die Gesellschaft, die Medien und auch die Kriege selbst stark verändert. Worin sehen Sie das Zeitlose und Universelle des Stoffes?
Edward Berger: Im Ersten Weltkrieg gab es natürlich kein Fernsehen und keine Nachrichten, die gezeigt haben, was an der Front wirklich passierte. Umso größer war die Begeisterung der jungen Männer, die damals in den Krieg zogen. Und darum geht es eigentlich in dem Roman: Wie eine ganze Generation durch Propaganda manipuliert wurde und dann schnell feststellte, dass jegliche Vorstellung von Moral, dass all ihre Ideale, ihre Unschuld und Jugend an der Front ihren Wert verlieren. Und wie sie langsam eines inneren, wenn nicht gar eines tatsächlichen Todes sterben. Hier liegt das Universelle des Romans, auf das wir immer wieder zurückgeworfen werden, wenn wir denn darüber nachdenken würden.
kinofenster.de: "Im Westen nichts Neues" ist in Partnerschaft mit Netflix entstanden und bei dem Streaming-Anbieter schon einen Monat nach dem Kinostart verfügbar. Insofern liegt nahe, dass Ihr Film überwiegend zuhause und von jüngerem Publikum gesehen wird. Welche Überlegungen hatten Sie in Hinblick darauf, dass Sie eine junge Generation mit bestimmten Sehgewohnheiten ansprechen, auch was die Darstellung von Gewalt angeht?
Edward Berger: Ich ziele in meiner Arbeit als Regisseur nicht auf ein spezielles Publikum. Ich habe den Stoff so verfilmt, wie ich ihn empfinde – wie er nach meiner Vorstellung als Film sein sollte. Remarques Roman ist wahnsinnig brutal, noch brutaler als wir ihn im Film darstellen. Dennoch war uns sehr wichtig, die Gewalt nicht zu verharmlosen, sonst verkommt so ein Film irgendwann selbst zu Propaganda (Glossar: Zum Inhalt: Propagandafilm). Der Roman hatte schon immer eine große Relevanz, gerade für junge Menschen. Meine Tochter zum Beispiel hatte sich bislang wenig für meine Filmprojekte interessiert. Als ich mit meiner Familie eine mögliche Zum Inhalt: Adaption von Remarques Buch besprach, sagte sie jedoch plötzlich: "Im Westen nichts Neues – das musst du unbedingt machen, wir haben das gerade in der Schule durchgenommen. Das ist das stärkste Buch, das ich je gelesen habe." Da war sie gerade siebzehn – und dann wurde mir klar, dass der Roman nichts von seiner Kraft und Modernität verloren hat. Das war auch ein wichtiger Grund, warum ich diesen Film machen wollte.
kinofenster.de: Der Erzähler im Roman spricht oft von einem "Wir" und redet viel über seine Kameraden. Sie haben sich sehr stark auf den Protagonisten Paul Bäumer selbst konzentriert. Ging es Ihnen dabei um eine Intensivierung der subjektiven Erfahrung?
Edward Berger: Ja, ich wollte dem Publikum so physisch wie möglich erfahrbar machen, was dieser Junge durchlebt. Manchmal öffnet der Film aber seine Perspektive, um diesem "Wir" gerecht zu werden. Es geht auch um die Kameraden, um die Freundschaft und wie man diese Freunde verliert. Grundsätzlich interessiert mich an den Ideen, die ich verfilmen möchte, aber immer eine starke zentrale Figur, mit der ich "gnadenlos" durch einen Film oder eine Geschichte laufen kann.
kinofenster.de: Wie sind sie mit der Problematik umgegangen, dass bei so einer Perspektive auf die deutschen Soldaten auch Mitgefühl und Identifikation entstehen? Haben Sie versucht, eine gewisse Distanz zu Paul Bäumer zu behalten?
Edward Berger: Absolut, ich habe neben aller Subjektivität den Spagat versucht, genau wie im Roman auch beobachtend zu bleiben und über die Dauer des Films eine langsame "Anfreundung" mit diesem jungen Mann zu schaffen. Allerdings muss man dazu auch sagen: Paul ist nun mal noch ein Kind, das manipuliert und belogen wurde, damit es in diesen Krieg zieht. Ich will nicht weiter auf die Ukraine eingehen – aber ich kann mir vorstellen, dass sich heute auch viele russische Soldaten, getäuscht durch manipulierte Nachrichten, ebenfalls im Recht wähnen. Und mit der Zeit hoffentlich herausfinden, ganz wie Paul Bäumer, dass sie an einem großen Unrecht beteiligt sind: Der Angriff auf andere Menschen, der Überfall auf ein anderes Land. Mir liegt nichts ferner, als dass man sich mit einem deutschen Soldaten unreflektiert identifiziert.
kinofenster.de: In ihrer Verfilmung sind gegenüber dem Roman neue Handlungsstränge hinzugekommen. Warum war es für Sie wichtig, die Waffenstillstandsverhandlungen und die Generalität zu zeigen?
Edward Berger: Wir haben die Perspektive von 90 Jahren nach Remarque. Er hat seinen Roman frisch unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges geschrieben, da gab es noch keinen Zweiten Weltkrieg. Ich wollte mit der Geschichte von Matthias Erzberger, der auf der Seite der deutschen Regierung mit der Verhandlung eines Waffenstillstands betraut war, ein Schlaglicht werfen auf all das, was zukünftig noch kommen sollte. Denn wir wissen mittlerweile, dass der Erste Weltkrieg und die Unterzeichnung des Waffenstillstands in Compiègne, die von nationalistischen Kreisen in Deutschland propagandistisch als Verrat verunglimpft wurde, erst der Anfang eines noch schlimmeren Grauens und der Beginn eines zweiten Konflikts waren. Ich habe sehr viel ausgelassen und hätte gerne noch zwei oder drei Stunden mehr verfilmt, aber bei einer Adaption muss einfach eine bestimmte, ganz persönliche und subjektive Auswahlentscheidung getroffen werden.