Von Ost nach West: "Anfangs war ich enttäuscht"

Kay Hagedorn, um 1989

privat

Kay Hagedorn gehörte zu den ersten Ost-Berlinern/innen, die am 9. November 1989 über die Bornholmer Brücke in den Westteil der Stadt gelangten. Der gebürtige Stendaler war damals 19 Jahre alt und schlug sich nach einer Ausbildung zum Maurer als Zugezogener in Ost-Berlin mit Gelegenheitsjobs durch. Er verkaufte "Geröll-Gewaschene" (Ost-Jeans), jobbte als Fotograf, wohnte bei Freunden - viele waren Künstler und Intellektuelle, die der Bürgerbewegung Neues Forum angehörten. Kurz vor der Wende, am 7. Oktober 1989, wurde Kay Hagedorn bei einer Demonstration in der Schönhauser Allee in Berlin-Prenzlauer Berg verhaftet; nach einer Nacht kam er wieder frei. Von der Öffnung der Grenzen erfuhr er im Radio. Er ging sofort mit einem Freund los und war einer von 500 DDR-Bürgern/innen, die einen roten Stempel in den Pass bekamen, womit ihnen eine Rückkehr in die DDR eigentlich verwehrt war. Heute lebt der 39-Jährige immer noch im Ostteil von Berlin; er arbeitet in der Pressestelle der Deutschen Oper.

"Nur wenige waren damals auf der Bornholmer Brücke, der Ansturm kam erst nach den Tagesthemen. Als ich vor kurzem noch mal über die Brücke gegangen bin, habe ich den Pfeiler erkannt, an dem ich damals angefangen habe zu heulen. Weil wir erreicht hatten, was wir wollten. Weil wir dafür so gekämpft haben. Man wusste, etwas passiert, aber es war schwer, an Informationen zu kommen. Bei den Treffen der Opposition in der Gethsemanekirche war ja alles stasiverseucht. Ich erinnere mich noch an die Kerzen, die in Prenzlauer Berg überall in den Fenstern brannten, das waren Sympathisanten des Neuen Forums. Viele haben das heute vergessen.Als wir in den Westen kamen, war ich irgendwie enttäuscht, dass es so dunkel war. Ein paar junge Leute standen da und haben gefragt, ob ich Hunger hätte. Sie haben mir einen Döner gekauft und sind mit uns im Bus zum Kurfürstendamm gefahren. Da wollten wir hin, das war der Westen für uns. Ich war immer sehr musikinteressiert und habe mir ihn verrückter, schräger vorgestellt, wie London, Carnaby Street, und dann war da nur Karstadt und C&A. Ich bin nach ein paar Stunden zurück und erstmal nicht mehr rüber gefahren. Meinen Kulturschock hatte ich später, bei Ikea, das gab es bei uns ja nicht, schöne Möbel, die man auch bezahlen kann, dazu Essen und Trinken. Seit zwanzig Jahren esse ich nun schon Köttbullar, die Fleischbällchen von Ikea - auch ein Jubiläum. Danach habe ich in West-Berlin angefangen, bei H&M zu arbeiten. Da gab es einen Gemeinschaftsraum, aber alle waren für sich, keiner hat geredet. Das kannte ich nicht. Und auf einmal war Leistung gefragt. Im Osten hatte man den Druck nicht, Geld konnte man ja nicht ausgeben. Im Westen schon: 2002 war ich 157 Abende in der Oper. In der DDR haben die Schulklassen ganz früh damit begonnen, in die Oper zu gehen. Heute suche ich meine Reisen nach Opernaufführungen aus. Meine erste habe ich nach London gemacht. Das war wirklich eine andere Welt, diese urbane Energie, Afrikaner, Inder, Coffeeshops, gepresste Säfte, Muffins. Das haben wir jetzt auch alles, aber damals war Berlin noch ein Dorf. 1997 war ich in New York, wie Paris eine zu Tode gefilmte Stadt, ich konnte nichts Neues entdecken – anders in Bamberg, kein Ort in Westdeutschland erinnert mich so an den Süden. Was ich mir vom Westen vorgestellt habe? Die Freiheit! Seit 20 Jahren führe ich ein selbstbestimmtes Leben. Es geht nicht um Reisen, sondern darum, dass ich lesen und sagen kann, was ich will. Wenn Ostler so eine Ostalgie entwickeln, werde ich immer ganz grantig. Die vergessen, wie unzufrieden sie waren. Ich bin ein idealistischer Mensch, das vermisse ich manchmal. Im Westen habe ich das Gefühl, dass der 9. November da keinen so richtig bewegt."

Von West nach Ost: "Wir fühlten uns wie Pioniere"

Achim Klapp, um 1989

privat

Achim Klapp, geboren im Taunus, war am 9.November 1989 21 Jahre alt. An diesem Tag war er in Paris und erlebte den Mauerfall vor dem Fernseher mit. 1990 zog er nach Berlin und begann dort sein Publizistik- und Jura-Studium. Er wohnte zwar im Westen der Stadt, ging aber fast jeden Abend im Osten aus. Heute lebt und arbeitet der 41-jährige im Westteil von Berlin als Medienberater.

"Ich wollte immer in den Osten ziehen, schon wegen der wahnsinnig günstigen Mieten, hat sich aber nie ergeben. Da war auch diese Sehnsucht, die wir hatten – wir, die aus einem Land kamen, in dem alles reibungslos funktionierte – nach dem Puren, Unfertigen, Rauen. Ein Freund wohnte zum Beispiel im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain, ohne Telefon. Handys gab es noch nicht. Das hieß: Du musst mich besuchen, wenn du mich sehen willst! Absurd, schließlich lebten wir in den 90ern! Da war alles so zappenduster, so runtergekommen, bei dem Freund in Friedrichshain lief Wasser den Treppenaufgang runter. Als wir seinen Vermieter suchten, wurde ihm klar, dass er der einzige ist, der mit einem älteren Paar noch in diesem Hinterhaus wohnt. Wir fühlten uns wie Pioniere. Das war aufregend, teilweise auch ein bisschen albern: wieder Straßenbahn fahren, Bars finden, die gerade öffnen. Es war auch dieser Mythos, an einem Ort zu sein, der Geschichte atmet. – Die meisten Westdeutschen blieben Anfang der 90er eher unter sich, auch an der Uni, wohnten in West-Berlin, in Kreuzberg, Charlottenburg oder Schöneberg. Dabei gab es in Ost-Berlin wahnsinnig starke Orte. Das erste WMF, das ja oft seine Standorte gewechselt hat: Über einen Schuttberg musstest du in den Hinterhof, und nebenan im Club gab es nur Caipirinha. Alles hatte diese Hiphop-Ästhetik, sah aus wie in der Bronx. Im zweiten WMF hat man unten getanzt, oben war ein Loch. Man konnte die Sterne sehen. Ich hatte dabei nie das Gefühl, etwas zu besetzen oder jemandem wegzunehmen. Da war ja nichts. Das kam erst später, dass die Bezirke Mitte und Prenzlauer Berg hip wurden, dass es da eng wurde. Das ist mir heute zu glatt saniert. Da fehlt das Nomadentum, das Berlins Clubkultur ausmacht, die temporären Orte. Anders als in München oder Frankfurt sagten Leute hier: Ich riskiere was, ich schaffe einen Ort. Das hatte nie etwas VIP-Haftes wie in München, sondern eigene Ironie und Charme. Natürlich war das damals eine politfreie Zone, ein fröhliches Sich-Gehen-Lassen, sehr undeutsch. Das ging, weil keiner reglementiert hat. Oder später, als der Palast der Republik geflutet wurde und darin Boote fuhren – das muss man sich erstmal trauen zu sagen: Diesem Ort gebe ich jetzt eine Leichtigkeit! Dieses Alles-ist-möglich-Gefühl, was sicher oberflächlich klingt, war doch nach 40 Jahren Kaltem Krieg nicht das Schlechteste. – Natürlich haben wir Ost-Berlin nicht nur als Spielplatz begriffen, wir haben uns im Osten viel angeschaut, Ausflüge gemacht. Das Triste, Düstere, Strikte dort war exotisch, blieb uns aber – wie die antiliberale Haltung in vielen Gegenden, wie die ausländerfeindlichen Ausschreitungen 1992 in Rostock-Lichtenhagen – letztlich fremd. Wir aus dem Westen kamen uns viel weiter vor, Frankfurt hatte immer einen hohen Ausländeranteil, galt als moderne Stadt: viele internationale Unternehmen, Museen und Theater mit interessanten internationalen Akteuren. Es gab sogar ein Dezernat für Multikulturelles, geleitet von Daniel Cohn-Bendit, hier musste man sich mit wichtigen gesellschaftlichen Themen wie Integration viel früher beschäftigen."

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