Kategorie: Interview
„Musik, Ton und Kamera genügen, um alle Gefühle auszudrücken“
Regisseur Gints Zilbalodis im Gespräch mit kinofenster.de über die Arbeit an "Flow"

Gints Zilbalodis, geboren 1994 in Riga, entwickelte bereits als Kind seine Liebe zum Film. 2010 entstand der erste von sieben Zum Inhalt: Kurzfilmen, für die er sich verschiedener Zum Inhalt: Animationstechniken bediente. Sein erster Langfilm "Away – vom Finden des Glücks" ("Projām" , LV 2019) wurde unter anderem beim internationalen Animationsfestival in Annecy ausgezeichnet. "Flow" erhielt 2024 den Europäischen Filmpreis und 2025 den Oscar® für den besten Animationsfilm. Das Interview wurde auf Englisch geführt.
kinofenster.de: "Flow" erzählt von einer Katze, die nach einer Flutwelle mit anderen Tieren auskommen muss. Gab es ein Vorbild für diese Katze, vielleicht in Ihrem Haushalt?
Gints Zilbalodis: Schon in der Schule hatte ich zwei Katzen, die mich zu einem Kurzfilm inspirierten. Katzen eignen sich gut für die Animation. Wir verstehen sie ohne Dialog, ohne Erklärung. So wissen wir, dass sie sich vor Wasser fürchten. In diesem Fall ist die Katze aber auch ein Alter Ego für mich selbst. "Flow" bedeutete meine erste Erfahrung mit einem Team. Meinen ersten Zum Inhalt: Spielfilm "Away" hatte ich ganz allein gemacht. Ich musste also lernen zusammenzuarbeiten und anderen zu vertrauen. Und diese Erfahrung wollte ich teilen. Die Katze ist als Protagonistin zunächst sehr unabhängig, wie Katzen nun einmal sind, und muss lernen anderen zu vertrauen. Insofern ist es eine sehr persönliche Geschichte.
kinofenster.de: Diese besondere Gruppe von Tieren würde im normalen Leben nicht gut miteinander auskommen. Macht auch das den Humor aus?
Gints Zilbalodis: Nun, die Tiere im Film sprechen nicht, anders als in den meisten Zum Inhalt: Animationsfilmen. Darin sprechen Tiere, laufen aufrecht und verhalten sich letztlich wie Menschen. Bringt man sie dazu, sich wie echte Katzen oder Hunde zu verhalten, wird die Story viel interessanter, emotionaler, auch lustiger, ohne dass wir ihnen Witze in den Mund legen müssen. Die Zusammensetzung der Gruppe ähnelte fast einem Casting. Man bringt sie zusammen und schaut, welche Art von Chemie sich entwickelt. Zu welchen komischen Situationen, aber auch zu welchen Konflikten kommt es? Mir war es wichtig, dass diese Konflikte und die daraus resultierenden Entscheidungen schwierig sind. Es sollte keine leichten Antworten geben. Deshalb gibt es in der Geschichte keine Held/-innen oder Schurk/-innen.
kinofenster.de: Die Welt mit den Augen einer Katze zu sehen, ist auch für das Publikum eine interessante Perspektive.
Gints Zilbalodis: Die Perspektive der Katze war eine sehr bewusste Entscheidung. Deshalb folgt ihr die Kamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) auf Schritt und Tritt. Wir sehen auch keine Menschen. Wir sehen ihre hinterlassenen Denkmäler und Gebäude, wissen aber nicht, was mit ihnen passiert ist. Auch woher die Flut kommt, wissen wir nicht. Der Grund liegt darin, dass es auch die Katze nicht weiß. Darin liegt der immersive Aspekt der Story, den wir nicht verlieren wollten, etwa durch lange Erklärungen. Alles aus den Augen der Figuren zu erfahren und mit ihnen zu lernen, ist viel filmischer. Auch deshalb haben wir auf den Dialog verzichtet. Die Zum Inhalt: Musik, der Zum Inhalt: Ton und die virtuelle Kamera genügen, um sämtliche Gefühle auszudrücken.
kinofenster.de: Wo spielt die Geschichte? Wir erkennen Tempel, manches sieht nach Thailand oder Kambodscha aus.
Gints Zilbalodis: Wir haben viele Orte (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) kombiniert und uns daraus eine eigene Welt gebaut. Es sollte ein Abenteuer sein, in dem man alles zum ersten Mal sieht, wie die Katze. Wir haben uns Orte in Südostasien, Mittelamerika und Nepal angesehen, oder auch europäische Architektur. Aber es sollte sich neu und zeitlos anfühlen, ohne Wolkenkratzer, Smartphones und Autos. Die Geschichte könnte sich also jederzeit abspielen, in der Vergangenheit oder der Zukunft.
kinofenster.de: Der Film wirkt fast wie ein Actionfilm. Welche Rolle spielt dabei Ihr bewegter Animationsstil?
Gints Zilbalodis: Viele Zum Inhalt: Szenen sind tatsächlich sehr aufregend, aber wir wollten es vermeiden, alles nur laut und schnell zu machen. Ebenso wichtig waren uns Momente des Innehaltens, ein meditatives Erleben der Natur, was die Actionszenen noch aufregender macht. Das ist untypisch für Animationsfilme. Wie in meinen Kurzfilmen sollte vor allem die Kamera aktiv sein, ich wollte diese langen Zum Inhalt: Einstellungen. Manche dauern fünf Minuten. Wir öffnen zum Beispiel mit einer Totale (Glossar: Zum Inhalt: Kameraperspektiven) und schneiden danach nicht auf eine Naheinstellung (close-up), sondern bewegen uns langsam auf die Figur zu, in einer fließenden, anmutigen Bewegung. Das fühlt sich spontan an, ist aber hochgradig choreografiert. Das Gefühl sollte zudem das einer Handkamera sein, mit Fehlern. Das gibt einen "human touch" und das Gefühl, mittendrin zu sein, statt nur einen Film zu sehen. Man ist selbst die Katze und dieser Welt sehr nah.
kinofenster.de: Haben Sie die Figuren, etwa die Katze, vorab gezeichnet? Oder wurde alles mit dem Computer gemacht?
Gints Zilbalodis: Beides, das ist ein sehr organischer Prozess. Aber alles ist von Menschen gemacht, und ohne KI. Die gesamte Animation wurde von unseren Animator/-innen im Computer (Glossar: Zum Inhalt: CGI) erstellt, aber unser Bezug waren immer echte Tiere. Wir haben uns Katzen- oder Hundevideos angesehen oder sind in den Zoo gegangen. Das Ergebnis ist jedoch nicht fotorealistisch, sondern sollte sich eher abstrakt und stilisiert anfühlen. Man sieht die Pinselstriche, das ist wieder der "human touch". Und die Farben sind etwas stärker. In der Animation darf man etwas expressiver sein, muss man nicht das reale Leben kopieren. Als die Fotografie aufkam, blühten Bewegungen wie Impressionismus oder Expressionismus. Ich denke, dasselbe geschieht gerade im Animationsfilm.
kinofenster.de: Wie behält man in einem solch komplizierten technischen Prozess die eigene poetische Vision?
Gints Zilbalodis: Die ursprüngliche Idee und die Gefühle sind wichtiger als die richtige Kamera, das Licht oder die Software. Allerdings will ich doch die Software erwähnen, die wir verwendet haben. Es ist eine Open-source-Software namens "Blender". Sie kann von jedem Kind heruntergeladen werden und ist so gut wie sämtliche teuren Tools der großen Studios. Ich glaube, wir werden viele junge Filmemacher/-innen erleben, die zuvor nie die Chance hatten, ihre Geschichten zu erzählen – auch in Ländern ohne große Filmindustrie, wie etwa Lettland. Das ist sehr aufregend, aber wie Sie sagen, wichtig ist der Fokus auf die Story.