Jugendrevolte 1968

Die 68er-Bewegung gab es in Amsterdam und Paris, in West-Berlin und Prag, in Washington und Tokio, und es war kein Zufall, dass sie Ende der 1960er-Jahre eruptiv die globale Bühne betrat. Die Nachkriegsgeneration wollte freier und selbstbestimmter leben als die durch Krieg und Wiederaufbau geprägte Elterngeneration. Der Wirtschaftsaufschwung hatte für mehr Freizeit gesorgt und die zuvor exklusiven Universitäten waren für breite Bevölkerungsschichten zugänglich geworden – Voraussetzungen für die Studentenrevolte. Neben dem Wandel von der asketischen Arbeitsgesellschaft hin zur hedonistischen Konsumgesellschaft beschleunigten zwei politische Ereignisse den globalen Protest: der Krieg der USA in Vietnam sowie der Prager Frühling und dessen Niederschlagung durch sowjetische Panzer 1968. In der Bundesrepublik kamen zwei spezifische Momente hinzu, nämlich die Kontinuität der Täter des NS-Regimes in der bundesdeutschen Wirtschaft, Justiz und Politik, die dem Generationskonflikt eine besondere Schärfe verlieh, und die Große Koalition, die seit 1966 regierte und die demokratische Machtbalance von Regierung und Opposition außer Kraft zu setzen schien.

Brennpunkt West-Berlin

An der Nahtstelle des Kalten Krieges, in West-Berlin, rebellierte die Nachwuchselite heftiger als in "Westdeutschland". Ein Fokus der Revolte richtete sich gegen den Springer-Konzern. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, dem politischen Anführer des Sozialistischen Studentenbunds (SDS), demonstrierten während der Osterfeiertage 1968 bundesweit und in West-Berlin Hunderttausende von Menschen. Bei Versuchen, das Berliner Verlagshaus zu stürmen, kam es zu blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. In West-Berlin, Zentrum und Magnet der bundesdeutschen Protestbewegung, trafen auch Horst Mahler, Otto Schily und Hans-Christian Ströbele aufeinander. Sie werden die bekanntesten Anwälte, die Mitglieder der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und später auch der Roten Armee Fraktion (RAF) vor Gericht vertreten.

Schlüsselerlebnis 2. Juni 1967

Auf den ersten Blick verbindet sie viel. Alle drei stammen aus der Oberschicht: Mahlers Vater war Zahnarzt, Schilys Betriebsdirektor, Ströbeles Chemiker. Keiner von ihnen war 1967/68 ein Repräsentant der Revolte. Sie waren älter als die Studierenden und lebten in bürgerlichen Existenzen. Ströbele hatte sich nach dem Mauerbau 1961 als Fluchthelfer betätigt, Schily war Mitte der 1960er ein aufstrebender Anwalt mit snobistischen Attitüden, Mahler ein in West-Berlin bekannter Wirtschaftanwalt. Ein Schlüsselerlebnis war für sie alle der 2. Juni 1967, als der Polizist Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg während einer Demonstration gegen den Schah-Besuch erschoss und Senat, Polizei und Justiz danach wenig taten, um die Tat aufzuklären.

Erst RAF-Anwalt, dann Innenminister

Doch schon 1969 schlugen die drei Anwälte verschiedene Wege ein: Schily, der Gudrun Ensslin im Kaufhausbrandstifter-Prozess und die Nebenklage im Ohnesorg-Prozess vertrat, wurde durch die politischen Prozesse zum Staranwalt. In dem spektakulären Stammheim-Prozess vertrat er ab 1975 RAF-Mitglieder. Schily blieb dabei stets auf Distanz zu seinen Mandanten/innen; neben wüsten Beschimpfungen als Terror-Sympathisant und Morddrohungen trug ihm seine Verteidigung auch Achtung bei der liberalen Presse ein. Sogar Axel Springer, den Schily mal als Zeuge vor Gericht scharf befragte, sagte über ihn: "Der Mann ist großartig. Schade, dass er auf der anderen Seite steht." Schily meisterte die heikle Balance zwischen RAF-Mandanten/innen und der hysterisierten Öffentlichkeit, weil er mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein gesegnet schien und mit der Überzeugung, dass er das im Rechtsstaat Nötige tat: nämlich seine Mandanten/innen gut zu verteidigen. Der Rechtsstaat ist die Orientierungslinie in Schilys Denken – auch wenn er 30 Jahre später als Innenminister im rot-grünen Kabinett den Rechtsstaat zunehmend als Sicherheitsstaat begriff. Schily hat sich von den Realo-Grünen, denen er in den 1980er-Jahre noch angehörte, zum konservativen Spektrum der SPD bewegt. Das ist ein sehr weiter Bogen – aber kein fundamentaler Bruch.

Ströbele – Das linke Gewissen

Christian Ströbele gründete im Mai 1969 in Berlin mit Horst Mahler und Klaus Eschen das Sozialistische Anwaltskollektiv. Für Schily dagegen, den bürgerlichen Solitär, kam die Idee im Kollektiv zu arbeiten, schon 1969 nicht in Frage. Ströbeles Vita ähnelt der von Schily. Auch er verteidigte RAF-Mandanten/innen, auch er war in den 1980er-Jahren grüner Bundestagsabgeordneter und wandelte sich vom politischen Anwalt zum Politiker. Allerdings fühlte sich Ströbele den RAF-Gefangenen politisch verbundener als Schily. Er redet sie mit "Genossen/innen" an und beteiligte sich an dem "info", dem internen Informationssystem der RAF-Gefangenen. Dafür wurde er 1982 zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Ströbele ist stets der linksliberale Anwalt geblieben, der auf demokratischen Protest, die Verteidigung von Bürgerechten und soziale Bewegungen setzt. Er repräsentiert die Kontinuität eines linken, kritischen Bewusstseins und einer fundamentalen Skepsis gegenüber dem Staat. Beides sind Haltungen, die Ende der 1960er salonfähig wurden und an denen Ströbele vierzig Jahre festgehalten hat. Übersehen wird dabei indes oft, dass der Bundestagsabgeordnete Ströbele neben seinen Grundüberzeugungen auch Machtbewusstsein und Talent für pragmatische Lösungen hat.

Mahler – ein Rätsel?

Und Horst Mahler? Er ist das Rätsel in diesem Trio, zeigt seine Biografie doch Wendungen auf, die nahezu unverständlich sind. Mahler gründete 1970 die RAF mit, tauchte unter, wurde verhaftet und verurteilt. Er war der erste Anwalt, der zum Linksterrorismus überlief. Und er war der erste Abtrünnige der RAF. Im Gefängnis wandte er sich von der Terrorgruppe ab und wurde Mitglied einer maoistischen Sekte. Nach seiner Entlassung 1980 zeigte er Interesse für den Liberalismus, wurde ein undogmatischer Linker. Seit 1997 hörte man von ihm zunehmend extremere deutschnationale Töne. 2000 trat er in die NPD ein, die er wieder verließ, weil er sie für zu staatstragend hielt. Im Februar 2009 wurde Mahler wegen Leugnung des Holocaust und Volksverhetzung zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt.

Von links nach rechts außen

Es scheint nahe liegend, Mahlers Vita als Beleg für den nationalen Unterstrom der 68er-Bewegung zu zitieren. In der Tat gibt es wichtige SDS-Persönlichkeiten wie Bernd Rabehl oder Günther Maschke, die sich von Links- in Rechtsradikale verwandelt haben. Richtig ist, dass Mahler in seiner RAF- ebenso wie in seiner Mao- und der Neonazi-Phase die USA und Israel als Feinde ansah. Doch Mahlers Achterbahnfahrt durch die Totalitarismen des letzten Jahrhunderts sprengt wegen ihrer Willkürlichkeit auch die These. Der vermeintliche Schlüssel zu dieser Inszenierung eines Lebens als Weltbürgerkriegsspektakel, in der Mahler nacheinander als Anhänger von Lenin, Mao und Hitler auftritt, ist am ehesten in seiner Biografie vor 1968 zu finden.

Biografie voller Brüche

Mahlers Eltern waren überzeugte Nationalsozialisten. 1945 floh die Familie aus Schlesien nach Sachsen-Anhalt. Als 13-Jähriger wurde er FDJ-Mitglied, während daheim noch NS-Ideologie gepredigt wurde. 1949, nach dem Selbstmord des Vaters, zog die Familie nach West-Berlin. Mit 19 wurde der Jura-Student Mitglied einer schlagenden Verbindung, kurz danach trat er in die SPD ein, wurde Juso-Vorsitzender in Berlin-Charlottenburg und 1960 wegen seiner SDS-Mitgliedschaft aus der Partei ausgeschlossen. In SDS-Kreisen war er Teil der traditionssozialistischen "Keulenriege", die von Stasi-Spitzeln durchsetzt war, und kurz darauf Mitglied von dessen Gegenpart, der jungen Radikalen. Seit 1964 betrieb er eine florierende Wirtschaftskanzlei, gleichzeitig übernahm er Mandate in politischen Prozessen. Schon 1970 diagnostizierte eine Zeitschrift bei Mahler "politische Schizophrenie". In Mahlers ersten 20 Lebensjahren gab es viele ideologische Schwenks, viele Brüche und auch Traumatisierung durch Flucht.