Kategorie: Szenenanalyse
"Deutsches Haus" – Inszenierung der Gerichtsszenen
Der Hintergrund analysiert, mit welchen filmästhetischen Mitteln die Serie den Ablauf des historischen Strafprozesses verdichtet und dramatisiert.
Richtertisch, Anklagebank, Zeugenstuhl – die prinzipielle Anordnung eines Strafprozesses ist uns aus vielen Gerichtsfilmen bekannt. Zum Filmarchiv: "Deutsches Haus" ändert nicht die Sitzordnung, überrascht aber durch eine ungewöhnliche Perspektive: Im Mittelpunkt der Disney-Produktion über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse 1963 steht die junge Übersetzerin Eva Bruhns, im Verfahren selbst eine klare Nebenfigur. Mitten im Saal platziert neben den Zeug/-innen, für die sie übersetzt, erfährt sie hier erstmals – wie viele im Saal – vom Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen im Vernichtungslager Auschwitz. Über die fünf Episoden verteilt, sorgen die Zum Inhalt: Gerichtsszenen nicht nur für dramatische Höhepunkte. Ihre markante Zum Inhalt: Inszenierung unterscheidet sie von der ansonsten gängigen Erzählweise. Die Zum Inhalt: Szenen etwa im Haus der Familie Bruhns schildern die Normalität dieser Zeit. Hier hingegen geschieht etwas Besonderes.
Verlesung der Anklage: eine höhere Gerechtigkeit
Zu verblüffenden Stilmitteln greift die Zum Inhalt: Regie gleich zu Beginn, der Verlesung der Anklage in der ersten Folge (Szene 1): In einer Totalansicht (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) des Gerichtssaals (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) erfolgt zunächst die Nennung der Angeklagten. Danach erhebt sich ein Gerichtssprecher und ist über die nächsten fünf Minuten, nahezu ungeschnitten von der Seite in leichter Untersicht (Glossar: Zum Inhalt: Kameraperspektiven) gefilmt, ausschließlich zu sehen. Die Kamera richtet sich vornehmlich auf den sprechenden Mund und die Kinnpartie, zeitweise sind nicht einmal seine Augen zu sehen. Zweimal allerdings wandert diese Nahaufnahme auf seine durch das Manuskript blätternden Hände, einmal auch auf ein Glas Wasser (Glossar: Zum Inhalt: Requisite), das der offensichtlich mitgenommene Sprecher zu sich nimmt. Auf der Zum Inhalt: Tonspur fährt die Verlesung unablässig fort, während sich die Kamera wieder auf den zwischenzeitlich sogar geschlossenen Mund richtet. In atemlosem Stakkato spricht seine Anklage von tausendfachem Mord durch Vergasung, Erschießung, Erhängen und Folter bis zum Tod, Tod durch Phenolinjektionen, wahlloses Töten von Frauen, Männern und Kindern. Die ungewöhnliche Ton-Bild-Schere, von einem Zum Inhalt: Jump-Cut abgeschlossen, deutet an, dass die wirkliche Verlesung weit länger dauert.
Die Szene irritiert und beeindruckt durch ihre mitleidlose Länge ebenso wie durch ihre visuelle Strenge. Betont wird so die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen, die keine Ablenkung erlaubt, aber noch etwas Anderes: Hier spricht eine "höhere Moral". Im System der Blickachsen, von der einleitenden Totale etabliert, steht der Sprecher auch über dem Gericht, das meist auf Augenhöhe gezeigt wird. Es ist eine neutrale Instanz, der Anklage optisch untergeordnet. Es scheint, als würde damit auf ein zentrales Problem des gesamten Verfahrens verwiesen: Die Verbrechen von Auschwitz sind nach gewöhnlichen Strafparagrafen nicht zu erfassen. Schon die Nürnberger Prozesse bemühten darum den präzedenzlosen Begriff der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Zwar wird in Frankfurt, wie der Richter zuvor gesagt hat, nach damals geltendem Recht geurteilt. Doch die Inszenierung dieser höheren Gerechtigkeit gibt nicht bloß Evas individuelle Überwältigung wieder, sondern die erschütternde Diskrepanz von Justiz und Moral, Recht und Gerechtigkeit. Hier wird juristisches Neuland betreten.
Symbolische Umkreisung des Grauens
In Folge 2 verlebendigt sich das Geschehen. Vielfach wechselnde Stilmittel illustrieren die Zeugenaussagen und deren Übersetzung durch Eva. Eine wiederum sehr lange Zum Inhalt: Einstellung, diesmal eine mehrfache Kreisfahrt (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) um den ersten Zeugen Jan Habuda und Eva, die so gemeinsam ins Zentrum rücken (Szene 2). Die Übersetzerin beginnt, sich mit den Zeugen/-innen, die in der Verhörsituation ihre schrecklichen Erlebnisse noch einmal durchleben, zu identifizieren. Die Zum Inhalt: Unschärfe der Figuren im Hintergrund verstärkt diesen Eindruck. Eva und der Zeuge, der über lange Strecken ohne Übersetzung oder Untertitelung auf Polnisch spricht, sind fast durchgängig einander zugewandt. Ihre Worte und Blicke richten sich nicht an die Richter. Zugleich muss sich Eva noch in ihre Aufgabe finden: Es gibt sprachliche Probleme, die beide irritieren, in einzelnen Nahaufnahmen sind sie darum auch ohne Schnitt wieder getrennt.
Nach solchen Mitteln extremer Dehnung werden weitere Aussagen und die Entgegnungen der Angeklagten ("Ich war niemals an der Rampe!") gerafft, in nun schnellem Schnitt und teils von nervösen Streichinstrumenten musikalisch untermalt (Szene 3).
Den nächsten Höhepunkt allerdings bildet der in ehrfürchtiger Strenge wiedergegebene Auftritt der Zeugin Rachel Cohn, die schon zuvor als wichtige Figur eingeführt wurde (Szene 4). In starrer Frontalansicht vor dem Richterpult sitzend, sieht man hinter ihr das Publikum – das Volk der Täter/-innen blickt auf die Holocaust-Überlebende, die ihm den Rücken zuwendet und stattdessen uns ansieht, die Nachkommenden. Ein Bild von hoher Symbolkraft.
Komplexe Montagen in Zeitlupe
"Deutsches Haus" steht wie jeder Gerichtsfilm vor der Aufgabe, einen mehrwöchigen Prozess auf wenige prägnante Szenen zu verdichten. In der Frankfurter "Strafsache gegen Mulka und andere"" wurden 359 Zeugen aus 19 Ländern gehört. In den weiteren Folgen dominieren daher Mittel der Raffung, die gleichwohl Eindruck hinterlassen. So vermischt eine mit leiser Zum Inhalt: Musik untermalte Zum Inhalt: Montage in Folge 4 die Aussagen von Zeug/-innen und Angeklagten, bei gleichbleibend starrer Einstellung, in Form von Überblendungen anstelle harter Schnitte (Szene 5). Am Ende dieser monotonen Abfolge der geschilderten Gräuel – es entsteht förmlich ein "stream of consciousness" der erlebten Schrecken – erweitert sich die Montage um ein Mittel der frühen Stummfilmsprache (Glossar: Zum Inhalt: Stummfilm): Die Gesichter von Angeklagten und Zeug/-innen – sowie Evas – werden einander entgegen der eigentlichen räumlichen Anordnung direkt gegenübergestellt.
Wiederum ein Mittel der Dehnung sehen wir in der effektvollen Kombination von Überblendungen und Zum Inhalt: Zeitlupe inklusive einiger Zum Inhalt: Jump-Cuts an anderer Stelle: Während nach der Anhörung alle Beteiligten den Saal verlassen, bleibt Eva allein zurück. Das Erlebte übersteigt ihre Kräfte, das Gefühl von Verzweiflung und zu diesem Zeitpunkt auch der Verdacht elterlicher Schuld überwältigen sie.
Wirkung der Gerichtsszenen: der Bruch mit der Illusion
Fazit: Die Regie von "Deutsches Haus" nutzt die Länge des Serienformats, setzt aber in den Gerichtsszenen wiederholt auf Kinomittel: Die naturalistische Ebene gezielt durchbrechend, inszeniert sie den Frankfurter Auschwitz-Prozess – wie jeder andere selbst eine Inszenierung staatlicher Gerechtigkeit, nicht umsonst vor Publikum – nicht als rein juristisches Verfahren. Eine Vielzahl filmischer Mittel reflektiert vielmehr seine immense gesellschaftliche Bedeutung, aber auch seine psychologische Wirkung auf Eva. Die widerstrebenden Prinzipien von Raffung und Dehnung kennzeichnen verschiedene Stadien ihrer Wahrnehmung: Eine ungeheure Masse von Informationen stürzt auf sie ein, fesselt ihre Aufmerksamkeit, und verschwimmt sogleich in einer Monotonie des Schreckens. Sie ist empört wie manche Rufe aus dem Publikum ("Mörder!"), im nächsten Moment wie gelähmt, zurückgeworfen auf ihre kleine Existenz im moralischen Chaos der Welt. In den geisterhaften Überblendungen verwischen die Grenzen, Eva weiß nicht mehr was wirklich ist, was noch gerecht und gut. Wie konnte das geschehen? Was fühlen die Opfer, was die Täter? Nicht nur Eva muss sich diesen Fragen stellen. Durch den Bruch mit der Illusion verdeutlicht "Deutsches Haus" , was die Auschwitz-Prozesse des Jahres 1963 eigentlich waren: nicht das Ende, sondern der Beginn der Aufarbeitung der deutschen Schuld.