Die Drehbuchautorin Annette Hess (u.a. "Weissensee" , Friedemann Fromm, DE 2009-2018; Zum Filmarchiv: "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", Philipp Kadelbach, DE 2021) veröffentlichte 2018 den Roman Deutsches Haus, in dessen Zentrum der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965) steht. Hess adaptierte das Buch als TV-Serie, bei der sie als Showrunnerin agierte.

kinofenster.de: Frau Hess, Ihren 2018 erschienenen Roman Deutsches Haus haben Sie als TV-Serie adaptiert. Warum ist Ihnen der Stoff um den Auschwitz-Prozess persönlich so wichtig?

Annette Hess: Im Jahr 1977 war ich zehn Jahre alt. Auf einer Klassenfahrt sah ich "Das Urteil von Nürnberg" (Stanley Kramer, USA 1961). Ich war bis dato vollkommen ahnungslos, was den Holocaust betraf. Der Film enthält dokumentarische Filmaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Dokumentarfilm), die englische Soldaten bei der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen gemacht haben. Man sieht beispielsweise, wie Bagger Leichenberge in eine Grube schieben. Das war für mich ein Schockmoment: Ich habe gespürt, das sind echte Bilder. Mir wurde bewusst, dass wir Deutschen diese Verbrechen begangen haben. Daraus resultierte ein Bewusstsein für eine besondere Verantwortung, davon zu erzählen und zu erinnern, was mich beim Schreiben immer begleitet.

kinofenster.de: Resultiert daher Ihr Interesse für deutsche Nachkriegsgeschichte?

Annette Hess: Ja. Ich kann nicht darüber schreiben, was 1944 passiert ist. Das wäre für mich wie eine Aneignung. Aber ich kann etwas über die Nachkriegszeit erzählen, die kenne ich aus eigener Erfahrung. Authentizität ist mir beim Schreiben wichtig. Zentral dabei ist die Frage, warum unsere Gesellschaft so ist, wie sie ist. Es wird sehr deutlich an den Figuren der Kriegskinder Eva und Annegret Bruhns. Ihre Generation durfte keine Fragen über die Vergangenheit ihrer Eltern stellen. So findet natürlich keine Aufarbeitung statt, sondern Verdrängung. Ich habe meinen Großeltern leider viel zu wenige Fragen gestellt, was ich heute bereue. Mein Großvater war Polizist in Polen. Er hat über seine Aufgaben dort stets geschwiegen. Wir wissen heute, dass auch die Polizei an Deportationen beteiligt war.

kinofenster.de: Welche Rolle spielt ein Begriff wie Schuld in diesem Zusammenhang für Sie?

Annette Hess: Durch meine Familiengeschichte fühle ich tatsächlich so etwas wie Schuld. Wir Deutschen haben aufgrund unserer Geschichte die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das "Nie wieder!" nicht zu einer hohlen Phrase verkommt. Mich beschämt es, dass es beispielsweise in Berlin oder Wien wieder zu Brandanschlägen auf Synagogen kommt.

kinofenster.de: In der von Ihnen geschriebenen Serie "Weissensee" gibt es die jüdische Familie Kupfer als Hauptfiguren und in "Ku'damm 56/59" einen Rock'n'Roller als Nebenfigur, dessen Eltern Auschwitz-Überlebende sind. Haben Sie sich so dem Thema genähert?

Annette Hess: Ich habe lange nach einem Zugang für eine umfassende Erzählung über das Thema gesucht. 2013 stieß ich auf der Zum externen Inhalt: Webseite des Fritz-Bauer-Instituts (öffnet im neuen Tab) auf die Mitschnitte der Frankfurter Auschwitz-Prozesse. Diese 400 Stunden habe ich mehrfach gehört. Als Protagonistin kristallisierte sich eine Polnisch-Übersetzerin heraus, die mich sehr beeindruckt hat. Sie redete sehr einfühlsam und sanft mit den Zeuginnen und Zeugen und gab ihnen damit das nötige Vertrauen. Denn es war schwierig für die Menschen, im Angesicht der Täter von den barbarischen Erlebnissen und erlittenen Traumata zu sprechen. Das geht nur, wenn man sicher ist, dass jedes einzelne Wort korrekt wiedergegeben wird.

kinofenster.de: Wie stark wurden die Gerichtsszenen fiktionalisiert?

Annette Hess: Der Prozess ist so nah wie möglich an der Realität erzählt, ich musste natürlich einiges aus ökonomischen Gründen vereinfachen. Das betrifft beispielsweise die Anzahl der Figuren: Aus den mehr als 20 Anwälten machte ich drei. Die Figur der Rachel Cohn gab es so nicht, ihre Aussagen stammen von den Prozesszeugen Josef Glück und Mauritius Berner. Was im Gericht gesagt wird, sind fast nur Originalzitate – wenngleich hier eine zeitliche Verdichtung stattfindet. Die fünfminütige Anklageschrift, die in der ersten Episode verlesen wird, dauert im Original fünf Stunden. Es kam die Kritik, dass die Familiengeschichte des ehemaligen Gestapo-Mannes Wilhelm Boger mit mehreren unehelichen Kindern und einem italienischen Schwiegersohn in spe sehr konstruiert klinge. Jedoch fände ich es anmaßend, bei diesen Figuren etwas zu konstruieren. Es handelt sich schlicht um die Realität.

kinofenster.de: In der von Ihnen angesprochenen Zum Inhalt: Szene der Anklageverlesung gibt es eine mehrminütige Naheinstellung (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen), die fast nur den Mund des Staatsanwalts zeigt. Ebenso auffällig wirken in den Gerichtsszenen die Zum Inhalt: Plansequenzen. Welchen Einfluss hatten Sie auf die filmästhetischen Mittel?

Annette Hess: Ich hatte die Funktion einer Showrunnerin inne, war somit für den Kreativprozess verantwortlich – von der Auswahl der Besetzung bis in kleinste Details beim Dreh. Ich glaube, es gibt im Szenenbild keine Tapete, die ich nicht abgenommen habe (Glossar: Zum Inhalt: Production Design/Ausstattung). Natürlich war auch die Zusammenarbeit mit der Zum Inhalt: Regie sehr eng. Randa Chahoud, Isa Prahl und ich haben uns am Anfang zusammengesetzt und gemeinsam ein Konzept entwickelt, wie diese Serie aussehen soll.

Vor Deutsches Haus schrieben Sie vorwiegend Drehbücher. Was war der Grund, dass Sie die Romanform wählten?

Annette Hess: Beim Schreiben eines Zum Inhalt: Drehbuchs handelt es sich von Anfang an um einen Prozess, bei dem ein Team mitwirkt. Somit stellen sich Autorinnen und Autoren schon früh der Kritik von Senderverantwortlichen oder Zum Inhalt: Produzent/-innen; die Finanzierung wird sofort mitgedacht, was schnell zum Umschreiben führt. Ich wollte bei diesem Stoff von Anfang an frei sein: Es ging beispielsweise darum, Beschränkungen hinsichtlich der Länge von Dialogen zu verhindern. Die Zum Inhalt: Dramaturgie des Romans ist aber sehr filmisch, szenisch. Deswegen stellte die Drehbuch- Zum Inhalt: Adaption keine große Hürde dar.

Neben dem Auschwitz-Prozess nimmt Evas Emanzipationsgeschichte großen Raum in der Erzählung ein. Wie kam es dazu?

Annette Hess: Das geschieht automatisch, wenn man von Frauen in den 1960er-Jahren erzählt. Ihnen blieb nur die Möglichkeit, sich entweder den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen oder gegen sie zu rebellieren – so wie Monika in der "Ku’damm" -Serie, die von einer Freundin meiner Mutter inspiriert war. Eva wiederum ist meiner Mutter entlehnt, die mit 21 Jahren damit beschäftigt war, einen gutverdienenden Mann zu finden. Die wenigsten Männer waren damals progressiv. Eva und Jürgen sind typische Vertreterinnen und Vertreter ihrer Zeit.

Vervollständigen Sie bitte den Satz: Filmbildung ist wichtig, weil …

Annette Hess: … Film Bilder, Ton und Sprache vereint. Näher kann man medial an Menschen nicht herankommen. Deshalb liegt es in meiner Verantwortung als Erzählerin relevante Geschichten zu erzählen. Filme können ein sehr guter Anlass sein, dass Menschen miteinander in den Dialog treten.