Der belgische Filmemacher Jaco Van Dormael, geboren 1957, gehört zu den wichtigsten Regisseuren des europäischen Kinos. Für sein Spielfilmdebüt erhielt er 1991 bei den Filmfestspielen von Cannes die Goldene Palme. Fünf Jahre später gewann der unter dem Down-Syndrom leidende Pascal Duquenne ebenfalls in Cannes den Darsteller-Preis für seine Rolle in Van Dormaels . Die Filme von Jaco Van Dormael sind oft aus der Sicht von Außenseitern erzählt, wobei der Filmemacher dabei wiederholt fantastische und komische Elemente einsetzt. Zuletzt arbeitete der Regisseur vor allem im Theater. Mit Zum Filmarchiv: "Das brandneue Testament" meldet er sich – sechs Jahre nach "Mr. Nobody" – nun wieder mit einem Kinofilm zurück.

Herr Van Dormael, was hat Sie daran interessiert, einen Film über Gott zu machen?

Gott und die Religion waren eigentlich nur ein Vorwand. Sie stehen in meinem Film für autoritäre Strukturen in einer von Männern geprägten Gesellschaft und deren Regeln. Es ging mir um die Rolle der Frauen, die in den meisten Religionen und auch in der Bibel weitgehend abwesend sind – aber auch darum, dass die verschiedenen Spielarten der Liebe in der Bibel nicht vorkommen. Dieser Gott steht für eine patriarchalische Gesellschaft, die auf Angst basiert, während die Frauen im Film für Freiheit stehen und auch für Sanftmut.

Sind die Frauen in Ihrem Film also die besseren Götter?

Die meisten Religionen sind patriarchalisch geprägt, von Männern und für Männer geschrieben – während die Frauen in den Hintergrund treten. Ich fand es interessant, mal eine kleine Revolution zu schildern: zu zeigen, dass Jesus eine Schwester hat, und Gott eine Frau und eine Tochter, die ebenso rebellisch wie ihr Bruder ist. Das öffnet völlig neue Perspektiven: Man kann etwa über die Liebschaften von Aposteln nachdenken. Und plötzlich erinnert die Apostelgeschichte an das wahre Leben, in dem Frauen eine dominantere Rolle haben.

Belgien ist ein vom Katholizismus geprägtes Land. Wie ist Ihre persönliche Beziehung zur Religion?

Ich bin nicht gläubig, aber katholisch erzogen und kulturell vom Katholizismus geprägt. Tatsächlich war ich als Kind überrascht von der Vorstellung eines eifersüchtigen Gottes, der keinen anderen Gott neben sich duldet, eines Gottes, der seinen eigenen Sohn opfert, eines Gottes, der Böses zulässt. Dieser allmächtige Gott war nicht wie Superman, der die Menschheit rettet. Diese kindlichen Zweifel sind sicherlich der Hintergrund meines Films.

Wie ist Ihrer Meinung nach die Beziehung zwischen Religion und Humor heute? Darf man über Gott lachen?

Man muss über alles lachen dürfen, was uns ernst ist, ansonsten ist es nicht ernst gemeint. Das Leben in einer Welt, in der nicht gelacht werden darf, wäre schrecklich. Länder, in denen nicht gelacht werden darf, sind schrecklich. Insbesondere schwarzer Humor tut auch weh: Humor und Leid sind sich sehr nah. Er erlaubt es uns, ohne Scham von den Dingen zu sprechen, die schmerzhaft sind. Das macht sie erträglicher.

Hatten Sie keine Angst, der Blasphemie bezichtigt zu werden?

Nein, überhaupt nicht. Mein Film ist erstaunlich offen angenommen worden. Auf einer kirchlichen Website wurde dazu ermutigt, ihn sich anzusehen und Fragen zu stellen – etwa über die Rolle der Frau, über Liebe und Homosexualität. Sie sind glücklicherweise keine Dummköpfe. Ich glaube sogar, dass der jetzige Papst, den ich übrigens toll und sehr mutig finde, über den Film lachen würde.

Der Gott in Ihrem Film erscheint hingegen als ein kleiner Sadist. Was ist Ihre Haltung zur Frage der Theodizee, warum Gott soviel Leid zulässt?

Die übliche Antwort ist, dass Gott uns Prüfungen auferlegt und unseren Glauben auf die Probe stellt. Doch ich selbst habe keine Lust, mich auf die Probe stellen zu lassen. Gott prüft uns, und danach soll das Glück im Paradies eintreten? Ich bin der Überzeugung, dass das Glück jetzt stattfinden sollte. Der Philosoph Gilles Deleuze hat einmal gesagt, dass es Gemeinsamkeiten zwischen Religion und Kino gibt. Beide wollen die Illusion vermitteln, dass das Leben einen Sinn hat. Die Strukturen der meisten Filme sind dergestalt, dass der Zuschauer eine Antwort, eine Lösung der Probleme erwartet, man wartet auf den Fortgang der Geschichte, auf die nächste Szene, das Happy End. Das ist wie in der Religion, in der das Glück nach hinten verschoben wird. Mein Film ist dagegen episodisch und erinnert mehr an die Abenteuer von Don Quichotte oder von Alice im Wunderland. Man befindet sich im Hier und Jetzt, in der wirklichen Welt. Man weiß nicht, wohin der Weg führt. Doch anstatt sich zu beeilen, genießt man das Unterwegs-Sein und die Begegnungen.

Éa verkündet den Menschen via Smartphone ihren jeweiligen Todestag. Warum tut sie das?

Sie tut es zunächst, um sich an ihrem Vater zu rächen. Die Folge dieser Aktion ist aber, dass die Menschen sich nun entscheiden müssen, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen. Sie hören auf, ihre Zeit mit Blödsinn zu verschwenden. Die Kenntnis ihres Todestags macht sie erst lebendig. Sie erkennen, dass das Paradies im Hier und Jetzt ist.

Neben dem besonderen Humor hat Ihr Film auch eine poetische Seite, besonders in visueller Hinsicht. Was waren Ihre Überlegungen hinsichtlich der filmischen Gestaltung?

Wir wollten viele symmetrisch konstruierte, frontale Bilder, die an religiöse Ikonen, wie in einer Kirche, erinnern. Es sollte so leer wie möglich aussehen, auch das schafft eine poetische Distanz. Wir benutzten Zum Inhalt: fixe Kameraeinstellungen, hinter denen sich aber das Zum Inhalt: Licht ständig leicht bewegte. Brüssel habe ich als Drehort ausgesucht, weil ich dort lebe – und auch, weil die Stadt wie eine Schöpfung dieses Gottes aussieht: er hat nicht New York oder Venedig erfunden, sondern eine Stadt, die trist ist. Es regnet die ganze Zeit, es gibt überall Staus, nichts funktioniert.

Und was können junge Zuschauer aus Ihrem Film lernen?

Sie sollen das Gefühl mitnehmen, dass sie aus ihrem Leben etwas Eigenes machen können. Man muss sich von den fest gefügten Vorstellungen darüber, wie das Leben zu sein hat, lösen. Das Leben ist kein Ikea-Katalog.