Karena Kalmbach ist Juniorprofessorin an der Technischen Universität Eindhoven. Sie forscht zu Umweltgeschichte und zur Sozial- und Kulturgeschichte der Technik. In diesem Zusammenhang hat sie sich mit der Wahrnehmungs- und Erinnerungsgeschichte des Reaktorunfalls von Tschernobyl auseinandergesetzt.

kinofenster.de: Frau Kalmbach, wie kam es in der Nacht zum 26. April 1986 zur Nuklearkatastrophe in Tschernobyl?

Karena Kalmbach: Kurz zusammengefasst: Es wurde ein Test durchgeführt, bei dem der Reaktor auf sehr niedriger Leistung gefahren wurde. Entgegen aller Annahmen des Personals vor Ort kam es jedoch zu einer plötzlichen Leistungssteigerung. Das führte zu einer thermischen Explosion, die in der Zerstörung des Reaktorgebäudes mündete. Dadurch wurde eine hohe Menge an Radioaktivität freigesetzt.

kinofenster.de: Sind derartige Tests gängige Praxis in Atomkraftwerken?

Karena Kalmbach: Atomkraftwerke laufen im Dauerbetrieb, weshalb aufwendige Tests so selten wie möglich durchgeführt werden, da damit meist eine geringere Stromproduktion einhergeht. Die Frage, wer genau die Verantwortung dafür trug, dass der Test in Tschernobyl zur Zerstörung des Reaktors führte, ist hoch politisch: Das wird auch in der Serie "Chernobyl" angesprochen. In den Schauprozessen hat man versucht, einige wenige Menschen für die Geschehnisse verantwortlich zu machen. Aber wie ebenso in der Serie deutlich gezeigt wird: es gab eine ganze Reihe von Dynamiken und Faktoren innerhalb des sowjetischen Atomsystems, die einen entscheiden Anteil an den Entwicklungen hatten und somit greift die Geschichte der Ursachen von Tschernobyl weit über den 26. April 1986 hinaus. Die Serie zeigt deutlich, dass es sich eben nicht nur um ein einzelnes Kraftwerk irgendwo nördlich von Kiew handelte, sondern dass dieses Kraftwerk und die dort arbeitenden Menschen eingebettet waren in ein System in dem Technik, Politik, Wirtschaft und Soziales in jeder Detailfrage zusammenspielten. Gleichzeitig muss man den globalen Kontext mit einbeziehen: das sowjetische Atomsystem ist ohne den Kalten Krieg, die Planungsutopien und die großtechnischen Fantasien der Nachkriegszeit in Ost und West nicht zu verstehen.

kinofenster.de: Welchen Stellenwert hatte Atomkraft während der Zeit des Kalten Kriegs?

Karena Kalmbach: In der Sowjetunion einen sehr großen. Die sogenannten "Atomstädte", wie Prypjat oder Tomsk, in denen Atomkraftwerke, Plutoniumfabriken und andere nukleare Großprojekte konzentriert wurden, waren Abbilder sowohl technischer als auch sozialer Utopien, in denen technischer und gesellschaftlicher Fortschritt zusammengedacht wurden. Aber diese Utopien gab es im Westen ebenso. Ein schönes Beispiel dafür ist der Walt-Disney-Fernsehfilm "Zum externen Inhalt: Unser Freund das Atom (öffnet im neuen Tab)" ("Our Friend the Atom" , Hamilton Luske) aus dem Jahr 1957. Man sieht darin zum Beispiel nuklear betriebene Flugzeuge und vielfältige Einsatzformen von Nukleartechnik in der Landwirtschaft. Es ist ein Imagefilm, der das "Atoms-for-Peace"-Programm der US-Regierung promotet. Diese Utopien wurden von der Umweltbewegung und der Friedensbewegung in den 1970er- und 80er-Jahren radikal in Frage gestellt, sowohl in Westeuropa, als auch in den USA. Aufgrund des politischen Systems waren Massenproteste gegen die Nukleartechnik in der Sowjetunion natürlich nicht an der Tagesordnung. Aber im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion wurden auch dort atomkritische Stimmen immer lauter.

kinofenster.de: Wann setzte die Aufarbeitung der Ereignisse in Tschernobyl ein?

Karena Kalmbach: Eine wirkliche öffentliche Aufarbeitung setzte erst mit dem Ende der Sowjetunion ein, viele kritische Wissenschaftler/-innen und Journalist/-innen engagierten sich darin. Diese Aufarbeitung bezog sich zuvorderst auf die Auswirkungen des Unfalls auf Mensch und Umwelt und die politischen Prozesse innerhalb der Sowjetunion. Aber wie schon gesagt, man muss den weiteren Kontext einbeziehen, wenn man Tschernobyl verstehen will – nicht nur hinsichtlich der Unfallursachen, ebenso hinsichtlich des Umgangs mit seinen Folgen. Und diesen Kontext zu verstehen: Damit sind Historiker und Historikerinnen noch immer beschäftigt.

kinofenster.de: Welche aktuellen Forschungsergebnisse können Sie in diesem Zusammenhang empfehlen?

Karena Kalmbach: In diesem Frühjahr hat Kate Brown, Nuklearhistorikerin und Professorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), das Buch Manual for Survival: A Chernobyl Guide to the Future veröffentlicht. Darin stellt sie dar, dass es nicht allein ein "Versäumnis" der Sowjetunion war, keine Langzeitstudien zum gesundheitlichen Zustand der Evakuierten und der tausenden von Menschen, die zu den Aufräumarbeiten herangezogen wurden (die sogenannten Liquidatoren), durchzuführen. Auch in Westeuropa und den USA gab es scheinbar wenig Interesse, die Langzeitfolgen solch eines Unfalls im Detail zu untersuchen. Im Abspann der Miniserie heißt es, dass es keine genauen Zahlen zu den Todesfällen gibt. Das ist richtig, alle Zahlen zu den Tschernobyl-Opfern beruhen auf Modellen, an Hand derer Erkrankungen und deren Mortalitätsrate berechnet werden. Deswegen variieren die Zahlen auch so enorm: Ihnen liegen unterschiedliche Annahmen zu Grunde, wie zum Beispiel zu der Menge der ionisierenden Strahlung, der ein Mensch über einen gewissen Zeitraum ausgesetzt war. Doch sagen diese statistischen Berechnungen natürlich nichts darüber aus, welche Krankheit ein Individuum zu welchem Zeitpunkt entwickelt. Über diese individuellen Krankheitsverläufe wissen wir vor allem dank der Arbeit engagierter Ärztinnen und Ärzte, die in den belasteten Regionen darüber Buch geführt haben, welche Symptome und Krankheiten sich häuften. Auch haben sich viele der ehemaligen "Liquidatoren" in Verbänden zusammengeschlossen, um Einzelschicksale nachverfolgen und ihre Interessen und die von Hinterbliebenen besser vertreten zu können. Das waren private Initiativen, auf die die Politik erst später reagiert hat – oder auch nicht. Wie reagiert wurde und wird hängt ganz davon ob, inwiefern Erkrankungen als direkte Ursache der Strahlungsbelastung durch Tschernobyl anerkannt wurden.

kinofenster.de: Welche Folgen hat die Strahlenbelastung?

Karena Kalmbach: Die Menschen, die der ionisierenden Strahlung in unmittelbarer Nähe des Reaktorkerns ausgesetzt waren, starben innerhalb weniger Tage oder Wochen an akutem Strahlensyndrom. Wie diese Krankheit in besonders schlimmen Fällen verläuft, wird in der Serie sehr anschaulich dargestellt, es ist ein sehr qualvoller Tod. Viele andere "Liquidatoren" und Evakuierte erlagen später Krebserkrankungen, es dauert oft Jahre, bis sich diese Erkrankungen zeigen. Es ist bis heute hoch umstritten, welche Langzeitfolgen die Niedrigdosis-Strahlung hervorruft, der die Menschen in den besonders belasteten Gebieten ausgesetzt sind. Durch die Untersuchungen nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki weiß man sehr genau, was eine hohe Dosis externer ionisierender Strahlung mit dem menschlichen Körper macht: nämlich das akute Strahlensyndrom. Was aber eine stetige Aufnahme von Radionukliden mit der Nahrung und eine dauerhafte Exposition durch eine kontaminierte Umwelt für Auswirkungen hat, darüber gibt es sehr verschiedene Auffassungen – wodurch wir so ein breites Spektrum an Zahlen zu Tschernobyl-Opfern haben. Diese stetige Aufnahme von Radionukliden mit der Nahrung und die dauerhafte Exposition durch eine kontaminierte Umwelt ist für viele Menschen in den besonders belasteten Gebieten fester Bestandteil ihres Alltages, daher können wir leider nicht sagen, dass die Folgen heute überwunden sind – ganz zu schweigen von den Folgen für die Menschen, deren Leben durch Umsiedlung oder Tod und Erkrankung von Angehörigen und Freunden komplett aus den Fugen geraten ist.

kinofenster.de: Kann sich eine Katastrophe wie in Tschernobyl wiederholen?

Karena Kalmbach: Die nach dem Unfall von Tschernobyl weiter betriebenen RBMK-Reaktoren wurden nachgerüstet, insofern konnte ein exakt gleicher Unfall wie in Tschernobyl ausgeschlossen werden. Aber "der exakt gleiche Unfall" ist nicht das vordergründige Problem. Verheerende Unfälle sind diejenigen, mit denen man nicht rechnet. Die zentrale Frage ist: Welche möglichen Szenarien nimmt man an? Das kommt auch in der Serie zur Sprache. Es konnte sich niemand wirklich vorstellen, dass eine Rahmenbedingung geschaffen wird, bei der ein RBMK-Reaktor explodieren kann. Solche Auslegungen von Anlagen auf bestimmte Schadens-Eintritts-Wahrscheinlichkeiten sind gang und gäbe. Man wird sich ihrer erst bewusst, wenn ein Szenario eintritt, mit dem man eben nicht gerechnet hat. So wie 2011 in Fukushima, wo die Anlage nicht für die Folgen eines gleichzeitigen Eintretens von Erdbeben und Tsunami ausgelegt war. Die Gefahr ist, dass man von einer hundertprozentigen Technikbeherrschung ausgeht und glaubt, es könne nichts passieren, was nicht im Handbuch steht oder in die Risikoberechnung mit eingeflossen ist. Das hat sich leider nach Tschernobyl nicht verändert. Man glaubte, dass eine bessere Schulung des Personals in Zukunft vergleichbare Unglücke verhindere. Aber die Optimierung der Mensch-Maschine-Interaktion ist eben nicht ausreichend. Es ist ein Irrglaube, Technik komplett kontrollieren zu können. Dennoch ist die heutige Welt geprägt von einer starken Technikgläubigkeit, bei der oft die Maschine das letzte Wort hat, weil wir denken, dass sie im Zweifel besser handelt als der Mensch. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, durch den die Frage möglicher Atomunfälle nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat: In der fünften Folge der Serie wird thematisiert, wie sich Kosteneinsparungen auf die Sicherheit einer technischen Anlage auswirken. Der Wunsch das Budget zu schonen, ist keinesfalls auf die Sowjetunion beschränkt. Seit Jahren wird von diversen Akteur/-innen kritisch daraufhin gewiesen, wie problematisch es ist, dass in Westeuropa immer mehr Arbeiten in Atomkraftwerken an externe Auftragnehmer/-innen outgesourced und nicht durch das eigene Kraftwerkspersonal durchgeführt werden. Die Gefahr wird hier sowohl in der Herausbildung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft des Personals, als auch im Wissensverlust innerhalb der Anlage gesehen.

kinofenster.de: Wie gestaltet sich heutzutage die Erinnerungskultur an die Katastrophe von Tschernobyl?

Die Erinnerungskultur unterscheidet sich nicht nur sehr stark in verschiedenen Ländern, sie ist oft auch sehr regional geprägt. Wie und was erinnert wird, hängt in erster Linie davon ab, wie staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure 1986 auf den Unfall reagiert haben – zudem spielen unterschiedlichste Faktoren wie zum Beispiel das Vertrauen in staatliche Expertise oder die Medienlandschaft einen zentrale Rolle. In Deutschland war die Erinnerung an Tschernobyl lange Zeit ein wichtiger Referenzpunkt für die Anti-AKW-Bewegung. Besonders die Auswirkungen des Unfalls in Deutschland selbst sind nach wie vor sehr präsent im öffentlichen Diskurs: Dass im Bayrischen Wald noch immer erhöhte Radioaktivität bei Pilzen oder bei Beeren gemessen wird, wird immer wieder thematisiert. Die Radionuklid-Konzentration hängt sowohl mit meteorologischen als auch mit geologischen und biologischen Faktoren zusammen: Regen (der die Radionuklide am Boden ablagert), die Topographie (die die Konzentrationen dieser Radionuklide zum Beispiel in Talsohlen befördert) und die Vegetation (die die Radionuklide unterschiedlich schnell in tiefere Bodenschichten befördert) spielen hier zusammen. Aber es ist eben gar nicht so sehr die Intensität von Radionukliden an einem bestimmten Ort, der dazu geführt hat, ob an diesem Ort Tschernobyl politisiert wurde, wie eben gesagt: viele andere Faktoren spielen dabei eine wichtige Rolle, wie das politische System oder der breitere nationale Atomdiskurs. Daher ist auch in anderen Ländern die Erinnerung an Tschernobyl weitaus politisierter als in Deutschland.

kinofenster.de: Welche regionalen Unterschiede gibt es hierbei?

Frankreich ist hier ein interessantes Beispiel. Dort wird nach wie vor darüber gestritten, ob der Tschernobyl-Fallout in Frankreich gesundheitliche Auswirkungen hatte und ob die Regierung und die staatlichen Atombehörden bewusst versucht haben, diese möglichen Auswirkungen herunterzuspielen. Gerade in den Regionen, in denen es 1986 hohen Niederschlag gab – wie auf Korsika – ist die Tschernobyl-Debatte höchst präsent. Aber Tschernobyl wäre in Frankreich eben sicher nicht so ein großes Thema, wenn die Erinnerung an den Unfall nicht in eine explizite Kritik am französischen Atomprogramm und Elitensystem (das dieses Atomprogramm fördert) eingebettet wäre. Noch ein anderes Beispiel: In Großbritannien mussten 1986 und 1987 fast ein Fünftel der Hochlandschafe von der Vermarktung zurückgestellt werden, weil das Fleisch der Tiere die nach Tschernobyl erlassenen EG-Grenzwerte zur Radioaktivität von Lebensmitteln überschritten hätte. Auf den Weiden hatten sich Radionuklide abgesetzt, die von den Tieren beim Grasen aufgenommen wurden. Das Problem blieb über lange Zeit bestehen, aber es wurde weniger und weniger thematisiert. Lange erinnerte man sich kaum noch an die Auswirkungen von Tschernobyl in Großbritannien – das Thema kam erst wieder auf die mediale Agenda als vor einigen Jahren die britische Regierung den Neubau von Atomkraftwerken bewilligte. Grundsätzlich kann man sagen, dass in Westeuropa die Erinnerung an Tschernobyl mit der Frage einhergeht, ob und wie Nuklearenergie zukünftig genutzt wird. In Osteuropa ist der daran geknüpfte Themenkatalog deutlich komplexer. Er reicht von Entschädigungszahlungen bis zur nationalen Unabhängigkeit, da in einigen Staaten Osteuropas der Loslösungsprozess von der Sowjetunion direkt einherging mit der Einforderung, endlich die Wahrheit über Tschernobyl und die gesundheitlichen Auswirkungen im eigenen Land zu erfahren.

kinofenster.de: Was können Schülerinnen und Schüler anhand der Serie lernen?

Ich denke die Serie problematisiert sehr deutlich, dass man sich nicht allein auf Technik verlassen darf und nie aufhören sollte, kritische Fragen zu stellen – weder als Wissenschaftlerin, noch als Politiker, noch in jeglichem anderen Arbeitsumfeld. Aber ebenso zeigt die Serie sehr deutlich, dass Tschernobyl kein "lokaler" Unfall war – die Ursachen und Folgen reichen weit über das Kraftwerk und die Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 hinaus. Ich hätte mir gewünscht, dass die Serie diese weitreichenden Kontexte noch mehr thematisiert und die Erzählung nicht auf einen "sowjetischen Unfall" beschränkt. Ohne den Kontext des Kalten Krieges, den prominenten Stellenwert von Nukleartechnik – von der Atombombe bis zum Röntgengerät – im 20. Jahrhundert und die internationale Atompolitik lässt sich Tschernobyl und die zentrale Rolle des Unfalls in heutigen atompolitischen Debatten nicht verstehen. Ich hoffe, dass Lehrende vor allem diese Aspekte im Unterricht ansprechen, wenn sie Tschernobyl thematisieren.

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