Richard Linklater (geboren 1960) gehört seit seinem Regiedebüt "Slacker" aus dem Jahr 1991 zu den einflussreichsten US-amerikanischen Independent-Filmemachern. Er hat sich in Hollywood mit (2003) und "Ich und Orson Welles" (2008) als Komödien-Regisseur einen Namen gemacht, sich dank persönlicher Filmprojekte wie der "Before-Trilogie" (1995-2013) oder aber seine künstlerische Unabhängigkeit bewahrt. Linklater lebt in Austin, Texas.

Mr. Linklater, wie oft befielen Sie in den vergangenen zwölf Jahren Zweifel, dass Sie "Boyhood" fertigstellen können?

"Boyhood" war so sehr in unsere Leben integriert, dass wir kaum Zeit gehabt haben, darüber nachzudenken. Man kann so ein Projekt mit einer Langzeitbeziehung vergleichen. Wir alle hatten uns voll und ganz einer Sache verschrieben. Und wie in jeder Beziehung bekommst du nur das zurück, was Du auch bereit bist einzubringen.

Ein Glücksfall war die Wahl Ihres Hauptdarstellers Ellar Coltrane. Glauben Sie, dass eine Art Wechselwirkung besteht zwischen dem jungen Mann, zu dem er heranwuchs, und der Rolle, die er im Film spielt?

Das ist im Nachhinein schwer zu sagen, aber er ist zweifellos in die Rolle eines ernsthaften, nachdenklichen jungen Mannes hineingewachsen. Fragen wie diese haben mich während der Arbeit an "Boyhood" immer wieder beschäftigt: Ist die Persönlichkeit eines Menschen genetisch veranlagt und wie stark sind wir in unserer Persönlichkeitsentwicklung kulturell geprägt? Wie viel von Ellar steckt also in der Figur von Mason – und umgekehrt? Ich denke, beides ist schwer voneinander zu trennen.

Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit Ihren Schauspielern an solch einem Langzeitprojekt vorstellen?

Es fühlt sich an, als würde man jedes Jahr einen neuen Film drehen. Da uns das nötige Geld fehlte, hatten wir nie mehr als durchschnittlich drei Tage für die Dreharbeiten. Das Zum Inhalt: Skript entstand im Laufe des Jahres. Unmittelbar nach Ende der Dreharbeiten schnitt unsere Cutterin Sandra Adair das neue Material. Der Film gleicht einer Skulptur, die wir Jahr für Jahr ergänzten. Für mich als Filmemacher war das eine seltsame Erfahrung: dass ich mir die Zeit nehmen konnte, mich in die Geschichte hineinzufühlen. Normalerweise ähneln die Arbeitsabläufe in der Filmindustrie denen in einer Fabrik. Bei "Boyhood" hatte ich dagegen zwischen den Drehs ein Jahr Zeit, mir zu überlegen, wie sich die Geschichte entwickeln könnte und wie sich die Beziehungen der Figuren verändern.

Wie stark brachten sich die Schauspieler in ihre Rollen ein?

Bedingt. Am Ende des Drehs konnte ich meinen Schauspielern meist schon erklären, was ich für ihre Figuren beim nächsten Mal vorgesehen hatte. Darüber tauschten wir uns im Laufe eines Jahres aus. Mit Ellar war es allerdings etwas anders. Je älter er wurde, desto partnerschaftlicher wurde unsere Zusammenarbeit. Ich wollte zum Beispiel nicht, dass der Film seine persönliche Entwicklung vorwegnimmt. Mason sollte keine Dinge tun, die Ellar selbst noch nicht erlebt hatte – etwa Rauchen, Trinken oder die erste Trennung.

"Boyhood" ist nach Ihrer "Before-Trilogie" Ihr zweites Langzeitprojekt. Was interessiert sie als Filmemacher daran, den Verlauf der Zeit zu thematisieren?

Zeit ist eine charakteristische Beschaffenheit von Film. Die Art und Weise, wie die Zeit im Kino manipuliert werden kann, ist in der Kunst einmalig. Dieses Verhältnis von Zeit und Film wirkt auf die Arbeit eines Filmemachers ungemein befreiend. Nicht ohne Grund hat Andrej Tarkowski vom Filmemachen als dem "Formen von Zeit" gesprochen. Das Konzept "Zeit" birgt eine Menge erzählerisches Potenzial. Ich hab mein halbes Leben darüber nachgedacht, wie man Geschichten auf neue Arten erzählen könnte und welche Form angemessen wäre, um eine bestimmte Geschichte zu erzählen.

"Boyhood" erzählt eine konventionelle Geschichte auf ungewöhnliche Weise. Dieses formale Interesse zeigte sich schon in Ihrem Debüt "Slacker" , wo sich die Zum Inhalt: Kamera beim Flanieren einfach an die verschiedenen Charaktere heftete.

Ich versuche mit meinen Filmen, den Rhythmus des Lebens zu imitieren. Die Form von "Boyhood" mag radikal erscheinen, aber die Erzählweise ahmt lediglich nach, wie sich unsere Leben entfalten oder unser Gehirn Informationen verarbeitet.

Sie haben, das wird in "Boyhood" wieder deutlich, ein seltenes Gespür für Kinder und Jugendliche. Wie arbeiten Sie mit jungen Darstellern, dass sie aus ihnen immer wieder so natürliche Darbietungen herausholen?

Ich glaube, das Geheimnis besteht schlichtweg darin, Kinder nicht anders als Erwachsene zu behandeln. Ich nehme sie ernst und ermutige sie, sich an der Entstehung des Filmes zu beteiligen. Und ich probe viel mit ihnen, so dass sie sich am Set wohl fühlen. Meine Art zu arbeiten entspricht wahrscheinlich eher dem Wesen von jungen Menschen. Bei vielen Filmen ist die Schauspielerei ein notwendiges Übel: Es gibt klare Anweisung, die befolgt werden müssen. Meine Arbeitsweise ist organisch. Selbst wenn Darsteller vor der Kamera stehen, fühlt es sich nicht unbedingt wie eine Performance an.

Diese Beobachterposition nehmen auch viele Ihrer Filme ein. Die Kamera drängt sich niemals auf.

Ich suche nach Momenten, in denen sich die Schauspieler wiederfinden können. Was ich bei der Arbeit an einem Film am meisten mag, ist, mich mit meinen Schauspielern in einen Raum zurückzuziehen und mit ihnen über ihre Charaktere zu sprechen – über Tage, manchmal Wochen. Wenn die Worte in einem Drehbuch eine Beziehung mit den Menschen eingehen, entsteht für mich im Kino Magie.