Constanze Froelich studierte Psychologie, Erziehungswissenschaften und Soziologie an der Freien Universität Berlin. Nach verschiedenen therapeutischen Aus- und Weiterbildungen führt sie seit acht Jahren die Jugendsprechstunde im Drogennotdienst in Berlin und leitet die Jugend- und Familienhilfe-Einrichtung Escape. Zudem ist sie Kinderschutzbeauftrage des Notdienstes für Suchtmittelgefährdete und –abhängige Berlin e.V.

kinofenster.de: Frau Froelich, wann spricht man von Sucht?

Constanze Froelich: Wir differenzieren zwischen schädlichem Gebrauch und einem Abhängigkeitssyndrom nach ICD-10. Das ist die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Viele Jugendliche befinden sich in der Phase des sogenannten Probierkonsums, sie testen in dieser Zeit bestimmte Substanzen zum ersten Mal aus. In Berlin liegt beispielsweise die Cannabis-Prävalenzrate (Rate für mindestens einmaligen Konsum) bei den 14- bis 17-Jähigen bei circa 62 Prozent. Wenn es innerhalb eines Jahres – egal bei welcher Substanz – an mindestens zwei Tagen pro Woche zum Konsum kommt, sprechen wir nicht mehr vom schädlichen Gebrauch, sondern wahrscheinlich von einem Abhängigkeitssyndrom.

kinofenster.de: Warum sind Drogen für Minderjährige so gefährlich?

Constanze Froelich: Der präfrontale Cortex, ein Teil des Frontallappens der Großhirnrinde, wird in der Pubertät umstrukturiert. Bei Minderjährigen kann jede psychoaktive Substanz – von Alkohol über Cannabis bis zu Crystal Meth – irreversible Schädigungen am Gehirn verursachen.

kinofenster.de: Im Film "Beautiful Boy" entwickelt der Protagonist Nic eine Abhängigkeit von Crystal Meth, die ihm äußerlich nicht anzusehen ist.

Constanze Froelich: Das ist nicht ungewöhnlich. Es gab vor einigen Jahren zwar die Kampagne, die mit "Vorher-Nachher"-Bildern vom Konsum abschrecken sollte. Jedoch wirkt dies verzerrend. Der Konsum funktioniert oft lange unentdeckt. Die Konsumenten nehmen sich als leistungsfähiger wahr. Sie können sich oftmals besser konzentrieren. Die Droge funktioniert als Stimmungsaufheller. Vielen Konsumenten sieht man auch den jahrelangen Missbrauch nicht unbedingt an. Die Droge ist jedoch keineswegs harmlos, da die körperliche und psychische Abhängigkeit schwierige Entzüge und langjährige Therapien nach sich zieht.

kinofenster.de: Woran können Eltern oder Lehrende ein Abhängigkeitssyndrom erkennen?

Constanze Froelich: An einer extremen Verhaltensveränderung, die über typische Pubertätsphänomene hinausgeht. Jugendliche sondern sich dann von den bisherigen Beziehungsbezügen – Familie, Freundinnen und Freunden – ab. Es zählt nur noch die Droge und alles, was damit in Verbindung gebracht wird: beispielsweise Musik, Kunst oder Mitkonsumenten. Alles andere spielt nur noch eine untergeordnete Rolle.

kinofenster.de: Wie sollte auf den Missbrauch von Drogen reagiert werden?

Constanze Froelich: Eltern sollten mit ihren Kindern immer im Gespräch und in Beziehung bleiben. Ein Sanktionierungsprogramm bringt bei einem schädlichen Konsum meistens nichts. Jedoch sollten die Sorgen um das Kind und ebenso das Verbot des Konsums klar formuliert werden. Haltung zu zeigen ist in diesem Prozess sehr wichtig, auch mit dem Wissen, dass die Jugendlichen sich darüber hinwegsetzen. Sprechen die Anzeichen für ein Abhängigkeitssyndrom, müssen die Eltern unbedingt Hilfe von außen holen, aber schon ein schädlicher Gebrauch sollte Eltern ermutigen, eine Suchtberatung mit ihren Kindern aufzusuchen.

kinofenster.de: Welche Rolle kommt den Schulen bei der Prävention zu?

Constanze Froelich: In jedem Fall sollte im Biologieunterricht über die Wirkungsweise von Drogen und die Folgen des Konsums aufgeklärt werden. Wünschenswert wäre ein Fach Gesundheit, das ab Klasse 1 Ernährung, Bewegung und später Sucht und Drogen thematisiert. Die derzeitige Praxis, einmal in Klasse 8 oder 10 einen Workshop zu machen, reicht nicht aus. Lehrende sollten darüber hinaus für Anzeichen eines missbräuchlichen Konsums sensibilisiert werden. Wichtig ist, dass sie nicht wegsehen, sondern signalisieren, dass sie offen für ein Gespräch sind. Eine funktionierende Beziehungsebene ist das A und O. In diesem Zusammenhang sollte die Schule eine Struktur schaffen, die im Alltag den Stress geringhält. Die permanente Verfügbarkeit digitaler Ablenkung sollte minimiert werden. Auch das Internet kann zu einer Sucht führen. Was man auch nicht vergessen darf: Die Schulhöfe sind der primäre Drogenumschlagplatz bei Jugendlichen. Sie gehen nicht in den Park oder zum Bahnhof, um etwas zu kaufen. Das findet in der Schule statt.

kinofenster.de: Gibt es rechtliche Aspekte, die beachtet werden müssen?

Constanze Froelich: Drogenkonsum ist bei Minderjährigen ganz klar verboten. Die Mitarbeiter/-innen der Suchtberatung unterliegen jedoch der absoluten Schweigepflicht. Außerdem sind die Jugendämter, von denen die ambulante Suchthilfe in der Regel finanziert wird, verpflichtet, Eltern zu unterstützen. Die Eltern sind häufig überfordert und haben oft selbst einen problematischen Umgang mit Drogen. Jedes sechste Kind in Deutschland wächst in einem Haushalt auf, in dem ein oder beide Elternteile unter einer Suchterkrankung leiden.

kinofenster.de: Wo finden Eltern Beratungsangebote?

Constanze Froelich: Es gibt fast in jeder Stadt Suchtberatungsstellen. Auf dem Land ist dieses Angebot leider etwas ausgedünnter. Darüber hinaus gibt es eine bundesweite Hotline unter 01805-31 30 31, die beim Finden einer nahgelegenen Suchtberatungsstelle hilft. Dort wird dann ein individueller Interventionsplan mit den Eltern und dem Kind oder Jugendlichen erstellt. Einer der ersten Schritte ist oft die stationäre Entgiftung. Diese findet in Kinder- und Jugendpsychiatrien statt.

kinofenster.de: In "Beautiful Boy" folgt auf den Entzug ein Rückfall. Ist das typisch?

Constanze Froelich: Leider ja. Die Rückfallquote liegt unabhängig von der Substanz bei etwa 70 Prozent. Manche Betroffene kämpfen ein Leben lang dagegen.

kinofenster.de: Wie wichtig ist das Herausarbeiten der Suchtursache, die bei "Beautiful Boy" unklar bleibt?

Constanze Froelich: Die Suche nach den Ursachen ist essentiell. Sucht ist oft eine Bewältigungsstrategie, um beispielsweise mit einer Depression oder einer Angststörung umgehen zu können. Wird diese sucht-, familien- und psychotherapeutisch behandelt, wird das Rückfallrisiko deutlich gesenkt.