Kategorie: Hintergrund
Ein perfektes Paar: Stadtmädchen trifft Landjungen
Vorurteile überwinden: Amelie aus Berlin und Bart aus Südtirol sind so verschieden wie Tag und Nacht und lernen sich dennoch gegenseitig schätzen.
Amelie und Bart könnten kaum unterschiedlicher sein. Das zeigt sich im Film Zum Filmarchiv: "Amelie rennt" schon bei ihrer ersten Begegnung. Gerade erst in der Südtiroler Lungenklinik angekommen, stiehlt sich die Titelfigur davon und läuft über eine Wiese zu einem Kuhstall, wo sie heimlich den Bauernjungen Bart beobachtet. Der bedient die Melkmaschine für die Kühe, setzt sich einen Kopfhörer auf und tanzt zur Musik. Als Bart sie entdeckt und sich beobachtet fühlt, entspinnt sich sofort ein Wortgefecht zwischen dem Eindringling und dem "Herdenmanager". In spielerischer Form werfen sich die beiden Schimpfwörter an den Kopf, wobei Amelie wahrscheinlich einige Dialektkraftausdrücke nicht versteht. Am Ende sagt Bart zu ihr: "Schleich di, Muhackl!" (hier sinngemäß: "Hau ab, du Sonderling!"; die Bedeutung von "Muhackl" erklärt Zum Inhalt: Drehbuchautorin Natja Brunckhorst im Zum Inhalt: "Es ist wichtig, dass man Kinder nicht für doof verkauft"Interview).
Ein Stall, zwei Lebenswelten
Im Kuhstall treffen sozusagen zwei Lebenswelten aufeinander. Die 13-jährige Berlinerin Amelie ist keck, aufsässig, verbittert, flucht oft und leidet unter chronischem Asthma, will sich aber nicht medizinisch behandeln lassen. Wenn sie die vielen Treppen zur Mietwohnung ihrer Mutter hinaufsteigt, kommt sie schnell aus der Puste. Sie hasst ihre Krankheit, wie ihr Vater einmal sagt, und versucht das lästige Asthma so gut es geht zu ignorieren. Selbst ihre beiden Freundinnen, mit denen sie sich nachmittags verabredet, wissen offenbar nichts von ihren gesundheitlichen Problemen. Dass ihre Eltern sich getrennt haben, hat sie noch nicht verwunden. Und es nervt Amelie, dass immer der Wäscheständer in ihrem Zimmer steht, wenn sie nach drei Tagen beim Vater wieder nach Hause kommt. Ihren Unmut bekommt die Mutter, die als Schaufensterdekorateurin arbeitet, sofort am Telefon zu spüren. Wie schlagfertig die Großstadtgöre ist, zeigt sich in der ersten Zum Inhalt: Dialog-Szene: Als ein Junge mit Skateboard sie aufzieht, kontert sie so drastisch, dass der Junge mit seinen beiden Begleitern maulend das Weite sucht. In der Zum Inhalt: Großstadt Berlin herrscht ein rauer Umgangston.
Der 15-jährige Bart (Kurzform von Bartholomäus) ist dagegen ein kerngesunder Naturbursche, der die Schönheiten und Gefahren der Berge gut kennt. Er ist eine besonnene Frohnatur und hat frühzeitig gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Nachdem er den tödlichen Herzinfarkt des Vaters hilflos mitansehen musste, kümmert er sich liebevoll um seinen jüngeren Bruder und betreut den Hof der Familie. Die Provokationen der zappeligen Amelie bringen das geduldige Landei nie aus der Ruhe. Als Amelie beschließt, auf den Berg zu steigen, lässt Bart das naive Mädchen nicht allein, sondern begleitet sie.
Wie aus Abneigung Freundschaft wird
Wie so oft in Zum Inhalt: Filmromanzen ist die anfängliche Abneigung der beiden konträren Charaktere auch hier der Startpunkt für einen paradigmatischen Beziehungsprozess: Aus dem Geplänkel erwächst Interesse, das zur langsamen Annäherung führt, bis beide Vertrauen schöpfen, sich Geheimnisse offenbaren und das Kribbeln im Bauch beginnt. Die Ausgangskonstellation mit ihrer klaren, ja fast stereotypen Zeichnung der beiden gegensätzlichen Protagonisten ist für ein junges Publikum klar erkennbar. Der Prozess der Annäherung wird durch eine Kette von dramaturgischen Wendepunkten strukturiert. Auffällig ist, dass Amelie ihr Verhalten stärker ändert als Bart, der – älter und lebensklüger als das Mädchen – es so akzeptiert, wie es ist. Amelie erkennt schließlich, dass er sie weder bemitleidet noch verspottet.
Der erste Wendepunkt ereignet sich auf einer schönen Bergwiese. Als Bart dem Mädchen seine Hilfe anbietet, wirft sie ihm an den Kopf: "Hör auf, mich zu stalken!" und "Geh melken!". Ihr ruppiges Auftreten ist ein Schutzpanzer, der verbergen soll, dass dahinter ein verletzliches Wesen steckt. Bart scheint das intuitiv zu spüren, er lässt sich von ihrer Garstigkeit nicht abschrecken und legt ihr ein belegtes Brot hin. Denn er ahnt, dass sie aus der Klinik ausgerissen ist und Hunger hat. Seine Samaritergeste bildet den Startschuss für eine schrittweise Annäherung der beiden.
Ein anderer Wendepunkt ist weit dramatischer angelegt: Bart rettet Amelie praktisch das Leben, nachdem sie auf der Suche nach einer Funkverbindung für ihr Smartphone in einen Wildbach gestolpert ist, der sie mitreißt. Die Rettungsaktion bricht das Eis in ihrer Beziehung. Als Bart vom Alpenbrennen erzählt, einem bäuerlichen Ritual auf den Gipfeln der Berge, das nach dem Glauben der Alten Wunder bewirkt, bekommt die bisher planlose Odyssee Amelies ein konkretes Ziel. Sie gesteht ihm: "Ich habe diese Krankheit, seit ich denken kann. Es kotzt mich an. Ich geh da jetzt rauf zu diesem Wunderfeuer, ich hab eh nichts mehr zu verlieren." Der Junge unterstützt Amelie, die bisher nicht gerade eine Sympathieträgerin war, von nun an in ihrem ehrgeizigen Vorhaben, ja, er wird ihr Komplize. So avanciert der Bergaufstieg zum gemeinsamen Ziel. Unterwegs fällt das ungleiche Duo jedoch mehrmals in das Ritual der wechselseitigen Neckereien zurück, wobei Amelies Atembeschwerden immer wieder deutlich zu hören sind.
Screwball-Comedy in den Alpen
Bei diesen Wortgefechten greift die Regie auf ein Gestaltungsmittel der US-amerikanischen Screwball-Comedy zurück, in der sich Erwachsene auf dem Weg zum Liebespaar immer wieder streiten. In "Amelie rennt" fehlt allerdings der sonst häufige erotische Unterton. Als die bockige Amelie sich beim Herabsteigen von einer Leiter ungeschickt anstellt und auf Bart fällt, kommentiert er das trocken: "Mann, intelligent wie eine Gurke." Sie darauf anerkennend: "Hätte auch von mir sein können."
Während Amelie und Bart so jenseits aller Unterschiede erste Gemeinsamkeiten entdecken, sorgen retardierende Momente und Rückschläge für neue Spannung. So simuliert Amelie an einem Elektrozaun, dass sie einen starken Stromschlag bekommen hat. Als Bart den Betrug bemerkt, ist er sehr enttäuscht. Amelie sieht ein, dass er sich große Sorgen gemacht hat, und schaut ihn schuldbewusst an. Es ist ihr erster tiefer Blick in seine Augen, dem von nun an noch längere Blicke folgen.
Ein ungleiches Paar entdeckt Gemeinsamkeiten
Zunächst scheinen beiden Protagonisten äußerst gegensätzlich, doch dies löst sich im Laufe ihrer Annäherung auf. Die Neckereien ihrer anfänglichen Begegnung behalten sie immer noch bei – allerdings wandeln sie sich von der abweisenden Provokation hin zum liebevollen Spiel. Als es dunkel wird, empfiehlt der bergerfahrene Bart, ein Notquartier aus Ästen und Zweigen zu bauen. Neben einem wärmenden romantischen Lagerfeuer entdeckt das Paar gemeinsame existenzielle Erfahrungen: Bart berichtet von den Nahtoderfahrungen seines Onkels, der unter einer Schneelawine liegend seltsame Farben sah. Solche Farben kennt Amelie von ihren schweren Asthmaanfällen, sie fühlt sich verstanden und in ihren Erfahrungen nicht mehr allein. In den Ängsten und Irritationen des Erwachsenwerdens sind sich die Teenager viel ähnlicher als zunächst vermutet. In ihrem jungen Alter können sie dies jedoch noch nicht artikulieren. So mündet die wachsende Vertrautheit in ein schönes Bild: Amelie kann nicht mehr weitergehen, sodass Bart sie huckepack trägt. Je höher sie kommen, umso größer wird die körperliche Nähe. Bart verspürt eine Verantwortung, für die er Vertrauen zurückbekommt; Amelie wiederum hat jemanden gefunden, der ihre Schwäche auffängt, ohne sie paternalistisch zu bemitleiden.