Kategorie: Hintergrund
Politik, Kommunikation und Medien in "Aggregat"
Die deutsche Demokratie steht vor Herausforderungen: Die Entfremdung zwischen Politik und Bürgerschaft hat zugenommen, rechtspopulistische Kräfte gewinnen an Relevanz und die Medienlandschaft verändert sich. Eine Einordnung am Beispiel des Films.
Ein Rednerpult, das mit dem Bundesadler gekennzeichnet ist. Ein junger Mann tritt ins Bild, stützt sich auf dem Pult ab, hebt die Hand, so als wolle er gleich zu einer Rede ansetzen, hält in der Bewegung kurz inne und verlässt dann abrupt den Platz. Nach seinem Abgang treten unterschiedliche Menschen ins Bild: Eine mehr oder weniger repräsentative Auswahl der Bevölkerung. Sie alle posieren, wie später deutlich wird, vor einer Fotokamera und imitieren für das Foto die Gesten und Auftritte von Politikerinnen und Politikern. Damit rückt der Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Aggregat" bereits zu Beginn bildhaft das Thema in den Fokus, dass in kurzen Zum Inhalt: Episoden von unterschiedlichen Akteuren verhandelt wird: Wie können Politik und Bevölkerung miteinander ins Gespräch kommen? Der Titel des Films verweist dabei auf die Problemlage: Der lateinische Begriff bezeichnet ein Ganzes, welches durch bloß örtliche Annäherung einzelner Teile entstanden ist; Teile also, die sich nicht verbinden.
Entfremdung zwischen Politik und Bürgerschaft
Der Film spricht besonders die gefühlte Entfremdung zwischen "Normalbürger/-in" und Politiker/-in an. "Wer in der Bundesregierung sitzt", so erregt sich ein Bürger im Infomobil des Deutschen Bundestags, das auf dem Bürgerfest zum Tag der Deutschen Einheit 2016 in Dresden Station macht, "hat sein Leben lang noch nicht schwer gearbeitet." Politiker/-innen und ihre Entscheidungen, so ein weiterer Vorwurf, seien weit weg vom Alltag der Bürgerinnen und Bürger. "Der kleine Mann, die kleine Frau will's doch verstehen!", artikuliert eine Frau im Rahmen der "Küchentischtour" der SPD durch Sachsen. Denn auch wer die Arbeit der Volksvertreter/-innen im Grunde wertschätzt, hat oftmals den Eindruck, dass sie den Kontakt zur Bevölkerung verloren haben. "Mehr Handshakes" fordert ein anderer Bürger, um die Kluft zu überwinden. Der Film verdeutlicht durch Einblicke in unterschiedliche Lebensrealitäten, wie komplex die Gemengelage und wie kompliziert es ist, als Politiker/-in eine Form der Kommunikation zu finden, der zumindest für die Mehrheit zufriedenstellend ausfällt.
Faktische und symbolische Funktionen von Politik
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Murray Edelman hat bereits 1971 darauf hingewiesen, dass Politik neben faktischen auch symbolische Funktionen hat. Die Politik einer Regierung läuft allerdings Gefahr zu versagen, wenn die Lücke zwischen symbolischer und faktischer Politik als zu groß wahrgenommen wird. Aufgabe der Politik muss es dementsprechend sein, diese beiden Bereiche kommunikativ zu verbinden. "Aggregat" beobachtet sowohl Bürger/-innen und Politiker/-innen als auch Medienschaffende bei dieser kommunikativen Arbeit. Gleichermaßen gibt der Film einen Eindruck der Migrationsdebatte, die den politischen Diskurs in den Jahren 2016 und 2017 maßgeblich mitbestimmt hat.
So wird auf der Kommunalkonferenz der SPD in Meißen etwa über einen Passus des Parteiprogramms gestritten. Soll der Satz, der darauf hinweist, dass die Kriminalität zurückgegangen ist, stehen bleiben oder gestrichen werden? Die "gefühlte Sicherheitslage" in der Bevölkerung, merken einige Delegierte an, sei eine andere. Dabei schwingt die Angst mit, dass die faktisch richtige Aussage weitere Teile der Wählerschaft den populistischen Kräften in die Arme treiben könnte – weil viele Wähler/-innen offizielle Statistiken verstärkt anzweifeln. In Bezug auf die Wirtschaftslage in Sachsen bringt der sächsische Wirtschaftsminister Martin Dulig die paradoxe Situation im Film auf den Punkt: "Dem Land geht es objektiv so gut wie seit 25 Jahren nicht, aber die Stimmung ist so schlecht wie seit 25 Jahren nicht."
Nachrichtengeografie und Komplexreduktion in den Medien
Bei der Beobachtung unterschiedlicher Nachrichtenredaktionen kann festgestellt werden, dass die Darstellung zentraler politischer Fragen immer auch von unterschiedlichen Motivlagen und Zielgruppeninteressen abhängt. Wo sich das MDR-Team fragt, inwiefern die Politik von AfD und Identitärer Bewegung in einen globaleren Zusammenhang reaktionärer Tendenzen gebracht werden kann, beschäftigt sich das taz-Redaktionsteam damit, ob eine Story über das AfD-Klientel ohne Frauen auskommen kann. Die BILD-Zeitung diskutiert wiederum die gefühlsorientierte Frage, welche der Storys "ins Herz der Leserschaft" treffen könnte.
Der Begriff "Nachrichtengeografie" beschreibt, wie (politische) Ereignisse zunächst gesammelt und nach ihrer Bedeutung für die unterschiedlichen Regionen eingeordnet werden. Letztlich entscheidet dieser Prozess darüber, welche Ereignisse den Sprung in die Nachrichten schaffen. Um publiziert zu werden, müssen sie komplexreduziert aufbereitet werden. Allerdings ist auch Komplexreduktion ein kompliziertes Geschäft: "Versteht man das überhaupt?", fragt sich das taz-Team bei dem Versuch, das Geschenk zweier Pandabären der chinesischen Regierung an die Bundesregierung und die damit verbundenen Millionenkosten satirisch mit der Migrationsdebatte zu verbinden.
Geschlossene Informationssysteme als Gefahr für die Demokratie
Ein weiteres Problem: Nachrichten aus den Mainstreammedien erreichen oft gar nicht mehr die Bevölkerung in ihrer Breite, da sich viele mittlerweile über soziale Netzwerke informieren und dabei bevorzugt Publikationsforen nutzen, die der eigenen Meinung nahestehen. So zergliedert sich die medial vermittelte Welt in immer kleinere Bereiche. Die vielen Perspektiven führen dazu, dass das, was zuvor faktisch als mehr oder weniger gesichert galt, zunehmend in Zweifel gezogen wird. Gezielte Falschnachrichten sind hierbei ein Faktor: Auch in Deutschland "entsteht politisch instrumentalisierte Desinformation aus fehlerhaften Berichten", die einen "selektierten Umgang mit Fakten" betreiben, wie etwa Reinhard Hüttl und Volker Stollorz in der ZEIT feststellten.
"Aggregat" zeigt, dass die sich verändernde Medienlandschaft für die Politik paradoxe Probleme aufwirft: Zum einen führt die Vieldeutigkeit in der Bewertung von Ereignissen dazu, dass politische Sachverhalte eigentlich differenzierter erklärt werden müssten; zum anderen bietet gerade dies jedoch populistischen Parteien und Strömungen wie AfD und Pegida die Möglichkeit, simplifizierende Propaganda mit großer Reichweite zu verbreiten. Im Ergebnis kann dies dazu führen, dass sich die Gesellschaft spaltet – oder in immer kleinere Gruppen aufsplittert.
Die Perspektive ändern, um Gemeinsamkeiten zu betonen
Der Film zeigt aber auch, dass kommunikative Arbeit auf politischer Ebene durchaus die Möglichkeit hat, einer solchen Entwicklung entgegenzuarbeiten. Als der im Senegal geborene SPD-Bundestagsabgeordnete aus Halle/Saale, Dr. Karamba Diaby, darauf angesprochen wird, ob er als Ostdeutscher und Person of Colour nicht einer doppelten Minderheit angehöre, antwortet dieser, dass er erstens deutscher Staatsbürger und zweitens SPD-Mitglied sei; deshalb fühle er sich nicht als Angehöriger einer Minderheit. Auch das ist politische Arbeit: die Perspektive so verändern, dass nicht das Trennende, sondern die Gemeinsamkeiten betont werden.
Weiterführende Links
- External Link Informationen zur politischen Bildung: Demokratie
- External Link bpb.de: Dossier Deutsche Demokratie
- External Link bpb.de: Unterrichtsblätter "Was heißt Demokratie?"
- External Link bpb-Mediathek: Was ist Demokratie?
- External Link bpb.de: Politisches System der Bundesrepublik
- External Link Informationen zur politischen Bildung: Massenmedien
- External Link ZEIT Online: Fake News und Rationalität