Nach dem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis in Hildesheim und York promovierte Christoph Scheurle über "Kanzlerdarstellungen im Fernsehen. Inszenierung, Rolle, Figur". Parallel arbeitete er als Schauspieler, Dramaturg und Theaterpädagoge. Seit September 2013 lehrt und forscht Scheurle im Fach Kulturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Kunst und Teilhabe am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund.

Herr Scheurle, Sie untersuchen das Auftreten von Politikerinnen und Politikern mit Fachbegriffen aus der Theaterwissenschaft. Politik hat den Anspruch des Seriösen, theatrale Mittel hingegen klingen nach Bühne und Spiel. Wie passen diese Ebenen zusammen?

Bühne und Spiel müssen in dieser Beziehung keinen Gegensatz zum Seriösen darstellen. Politik – insbesondere in Demokratien – muss sich öffentlich legitimieren. Komplexe politische Entscheidungen werden in der Regel nicht in der Öffentlichkeit gefällt. Also bedarf die Vermittlung dieser Sachverhalte an die Öffentlichkeit einer Re-Inszenierung, um überhaupt verständlich zu sein. Begreift man den Begriff des Theaters oder des Theatralischen als objektive, nicht abwertende Beschreibung, dann greift auch in politischen Darstellungsprozessen die ABC-Formel. Diese besagt, dass Theater immer dann stattfindet, wenn ein Darsteller (A) als eine Figur (B) vor einem Publikum (C) auftritt.

Welche Funktion haben die Begriffe "Inszenierung" und "Rolle" in diesem Zusammenhang?

Begreift man Inszenierung als eine Strategie, die auf Erprobung und Wiederholbarkeit angelegt ist, so kann man in Bezug auf das Politische feststellen, dass es gewisse Routinen gibt, die den Inszenierungsrahmen darstellen: beispielsweise die Pressekonferenz, die Debatte im Bundestag oder die Regierungserklärung. Die individuelle Inszenierungsstrategie einer Politikerin oder eines Politikers ist in der Regel darauf ausgelegt, (in einem solchen Setting) einen möglichst glaubwürdigen Eindruck zu machen. In diesem Zusammenhang ist der Rollenbegriff vor allem in seiner sozialen, weniger in seiner theatralen Bedeutung relevant. Es gibt die soziale Rolle und Funktion der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers. Die Art und Weise, wie Schröder die Kanzler-Rolle interpretiert hat, unterscheidet sich aber wesentlich von der Angela Merkels. Die Kanzlerfigur Merkel wird und ist gerade auch in Abgrenzung zu ihren Vorgängern ganz konkret fasslich.

Unterscheiden sich die Inszenierungsstrategien in den verschiedenen Medienformaten?

Ja, denn das jeweilige Format bestimmt ganz wesentlich den Spielraum der Darstellung. Eine Interviewsituation ist wenig dynamisch, sie folgt dem Gebot von Einheit des Ortes und der Zeit. Durch ihren potenziell offenen Ausgang hat sie sozusagen einen dramatischen Zuschnitt und lässt dem politischen Akteur viel Spielraum für seine oder ihre Darstellung. Eine Darstellung bleibt zwar in der Regel im Rahmen des Erwartbaren, trotzdem kann es zu Situationen kommen, in denen Politiker/-innen den Spielraum erweitern, wie etwa Gerhard Schröder in der "Elefantenrunde" nach der Bundestagswahl 2005. Wahlwerbeclips hingegen sind eher erzählerischer Natur. Als in sich abgeschlossene Werke sind sie vollständig kontrolliert. Inhaltlich sind sie darum bemüht, den oder die (Kanzler-)Kandidatin in unterschiedlichen Situationen und meist in günstiger Weise darzustellen. Hierzu kommen ästhetische Gestaltungsmittel wie Musik, dynamische Zum Inhalt: Schnitte, Zum Inhalt: Zeitlupen, emblematische Bilder, die gemeinhin mit Erfolg und Regierungsfähigkeit assoziiert werden sollen.

Seit wann lassen sich Inszenierungsstrategien von Politikerinnen und Politikern nachweisen?

Bereits in der Antike ging Aristoteles davon aus, dass das Talent zur Darstellung auf natürlichen Anlagen beruhe. Andererseits war er davon überzeugt, dass die Beherrschung der Stimme erlernbar sei. Ein Merkmal der Inszenierung ist das planvolle und auf Wiederholbarkeit angelegte Handeln. Somit ist auch die Stimmbeherrschung bereits eine Form der Inszenierung. So gesehen hat es unterschiedliche Inszenierungsformen sicher schon immer gegeben.

Worauf sollten Schülerinnen und Schüler achten, wenn sie die Selbstdarstellung von Politikerinnen und Politikern analysieren?

Es kommt darauf an, ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Inszenierungsebenen zu entwickeln. Auf welcher "Bühne" findet der Auftritt statt? Wer sind die Adressaten? Welche ästhetischen und rhetorischen Mittel kommen zum Einsatz? Dabei sollte auch beachtet werden, was Politikerinnen und Politiker nicht sagen, beispielsweise wie sie ihre Ziele erreichen wollen.

In der deutschen Nachkriegsgeschichte gab es Politiker/-innen, die ihre Meinung auch undiplomatisch äußerten. Wie hat sich die Wortwahl in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert?

Sprache ist immer auch Ausdruck eines bestimmten Zeitgeists. Einerseits sind Politiker/-innen heutzutage sehr um einen differenzierten und reflektierten Ausdruck bemüht, andererseits gibt es absichtsvoll herbeigeführte Tabubrüche. Dabei wird der Versuch unternommen, bestimmte semantische Figuren wieder salonfähig zu machen. Wenn die Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, davon spricht, dass der Begriff "völkisch" nicht mehr so negativ verstanden werden sollte, dann handelt sie in strategischer Absicht. Rehabilitiert werden soll so ein Terminus, der in der Geschichtswissenschaft einen Sammelbegriff "für die nationalistisch-antisemitische Rechte in Deutschland" darstellt, wie der Autor Kai Biermann [in seinem Kommentar in der ZEIT, Anm. d. Redaktion] treffend analysiert hat.

Welchen Einfluss haben die Neuen Medien auf die Inszenierungsstrategien?

Im Wahlkampf soll die Botschaft eines Kandidaten die Wählerinnen und Wähler auf unterschiedlichen Kanälen erreichen. Die Wahlkampagne von Barack Obama im Jahr 2008 – "Yes, we can!" – konzentrierte sich gezielt auf die Mobilisierung von Unentschlossenen in bestimmten Bevölkerungsschichten. Für eine derartige Kampagne sind erhebliche finanzielle Mittel notwendig. Jedoch erlauben die Neuen Medien und die rasanten technologischen Entwicklungen im Soft- und Hardwarebereich auch mit begrenzten Mitteln, qualitativ gutes Material wie Werbefilme zu erstellen. Das Internet und das Web 2.0 erlauben zudem eine niedrigschwellige Wähleransprache.

Wie machen sich antidemokratische Parteien und Bewegungen die Inszenierungsformen in den Neuen Medien zu eigen?

Hier lassen sich meines Erachtens vor allem drei Strömungen beobachten. Erstens gibt es das Bestreben, mit professionell aufgezogenen Websites, Blogs und der Nutzung sozialer Medien gezielt falsche Informationen zu streuen. Das Internet hat diesbezüglich zwar zu einer Demokratisierung und Teilhabe geführt, aber auch dazu, dass eine Vielzahl falscher Behauptungen den Weg in die Öffentlichkeit findet. Die sogenannte Gatekeeper-Funktion der Medien, Informationen zu filtern, ist damit faktisch ausgehebelt. Zweitens gibt es eine Entwicklung hin zu spektakulären Aktionen im öffentlichen Raum, die wiederum gefilmt und in den sozialen Netzwerken publiziert werden. Gruppen wie die „Identitären“, eine völkisch orientierte Bewegung mit rechtsextremistischen Tendenzen, inszeniert sich als gewaltfreie Spaßguerilla, die mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie beispielsweise dem Erklettern des Brandenburger Tors auf sich aufmerksam macht. Drittens gibt es das Bestreben, diffuse Ängste in der Bevölkerung vor Fremden und Andersartigkeit zu schüren und das vermeintlich konsistente Konzept einer nationalen Identität zu vermitteln.

Woran können Schülerinnen und Schüler Manipulationsversuche erkennen?

„Fake News“ zu erkennen ist nicht leicht. Oftmals werden Sachverhalte einfach verdreht oder Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, so wird dann ein anderer Eindruck vermittelt. Sinnvoll ist immer die sorgfältige Überprüfung der Quelle und der Abgleich mit so genannten „Qualitätsmedien“. Eine Google-Suche kann auch auf falsche Fährten führen. Denn in der Regel kennt Google unsere Präferenzen und bietet nur eine bestimmte Auswahl an Quellen an, von denen auf Grund bestimmter Algorithmen angenommen wird, dass sie uns interessieren. Solchen so genannten „Filterblasen“ kann nur entgehen, wer sich die Mühe macht, sich auch abseits der Suchmaschinen, vielleicht gar abseits des Internets zu informieren, zum Beispiel über Zeitungen oder Radio.