Sonja, Schülerin in einem Klostergymnasium, ist keine geborene Rebellin. Sie mag ihre streng katholische Familie und ihren bayerischen Heimatort Pfilzing, ist gut in der Schule und überall beliebt. Ein Aufsatzwettbewerb des Bundespräsidenten weckt ihre jugendliche Neugier: "Alltag im Nationalsozialismus". Sonja möchte den Widerstand der Pfilzinger zur NS-Zeit dokumentieren, vor allem den der Kirche. Stattdessen stößt sie auf den Widerstand der Gemeinde und eine Mauer des Schweigens. Stadtobere wie der Bürgermeister oder der Chefredakteur des Lokalblatts, aber auch einfache Bürger/-innen leugnen oder verharmlosen ihre wahre Rolle während des Nazi-Regimes. War wirklich der damalige Bürgermeister Zumtobel "an allem schuld"? Und welcher Bürger wurde der "braune Heinrich" genannt, weil er so viele denunzierte? Als "Nestbeschmutzerin“ diffamiert und ausschließlich von ihrer Familie unterstützt, kämpft Sonja auch als Studentin um die Wahrheit und erstreitet sich juristisch den Zugang zum Stadtarchiv. Denn wie sie sagt: "Man muss doch wissen, wo alles herkommt. Sonst weiß man nicht, wo es hingeht."

Der Zum Inhalt: Vorspann kennzeichnet den 1990 unter großem Aufsehen erschienenen Film als Fiktion nach wahren Begebenheiten. Das schreckliche Mädchen beruht auf der Geschichte der Schriftstellerin Anna Rosmus (*1960), die zu Anfang der 1980er-Jahre mit Nachforschungen über ihre Heimatstadt Passau begann. Bemerkenswert ist zunächst die ungewöhnliche Filmsprache. Statt den bekannten Fall realistisch oder dokumentarisch (Glossar: Zum Inhalt: Dokumentarfilm) zu illustrieren, griff Regisseur Michael Verhoeven (Glossar: Zum Inhalt: Regie) zu zahlreichen Mitteln der Verfremdung. Sonjas naive Neugier wird von ihr selbst humoristisch überspitzt, wobei sie sich durch ihre Erzählung und auch das Durchbrechen der Zum Inhalt: vierten Wand direkt ans Publikum wendet. Stellenweise wirkt der Film wie eine Parodie (Glossar: Zum Inhalt: Genre), in der die muntere Protagonistin, vor dem Gerichtsgebäude oder vor Statuen posierend, wie eine Stadtführerin durch ihr eigenes Leben führt. Die Zum Inhalt: Szenen in Bibliothek oder Stadtarchiv, wo ein freundlicher Archivar Sonjas Arbeit in Wahrheit sabotiert, wurden durch raffinierte Lichtprojektionen der jeweiligen Kulisse betont theaterhaft inszeniert. Ziel dieser und anderer Stilmittel war es laut Verhoeven, die Geschichte universal zu gestalten. Das fiktive Pfilzing (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) steht nicht nur für Passau, sondern für jede deutsche Stadt, die unter ihre schuldhafte Vergangenheit lieber einen Schlussstrich ziehen möchte.

"Das schreckliche Mädchen" blickt zurück auf eine Zeit, in der sich die aktive Auseinandersetzung mit NS-Herrschaft und Judenverfolgung erst allmählich zum vielbeschworenen "Konsens" der deutschen Gesellschaft entwickelte. Bei ihren Recherchen sieht sich Sonja mit fortdauerndem Antisemitismus, Rechtsextremismus und offenen Bedrohungen für Leib und Leben konfrontiert. Mag das satirisch überzeichnete bajuwarische Milieu heute auch fremd wirken, bietet die positive Ausstrahlung der Hauptfigur doch einen noch immer funktionierenden Zugang. Heutige Schülerinnen und Schüler sehen das brav bezopfte Mädchen früher Schwarzweiß- Zum Inhalt: Rückblenden zu einer modernen jungen Frau heranwachsen. In Geschichte, Politik und künstlerischen Fächern kann neben ihren sich wandelnden Motiven diskutiert werden, ob der satirische Ansatz die Erzählung erfolgreich zeitlos gestaltet oder nicht doch verharmlost. Über den Umgang mit den Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland kann dabei auch an aktuellen Beispielen gesprochen werden. So spielte der damalige Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten auch anlässlich der "Flugblatt-Affäre" im bayerischen Landtagswahlkampf 2023 eine tragende Rolle, da sich das antisemitische Flugblatt auf die Ausschreibung des Wettbewerbs bezog. Seinerzeit gewann Hauptdarstellerin Lena Stolze, die in Verhoevens "Die weiße Rose" (DE 1982) die Widerständlerin Sophie Scholl gespielt hatte, für ihre Rolle den Bundesfilmpreis. In Passau und München allerdings durften die Plakate des Films nicht aufgehängt werden – als Grund zog man die "Unsittlichkeit" der Darstellung heran.

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