Kategorie: Film
"Murer – Anatomie eines Prozesses"
Gerichtsdrama um einen österreichischen NS-Verbrecher
Unterrichtsfächer
Thema
Graz, 1963: Auf Initiative von Simon Wiesenthal, der weltweit nach Tätern und Täterinnen von NS-Verbrechen forschte, ist der angesehene Lokalpolitiker und Großbauer Franz Murer als NS-Kriegsverbrecher angeklagt. Aus aller Welt sind Zeugen angereist, die ihn als "Schlächter von Vilnius" identifizieren. Gegen die drückende Beweislast gelingt es der Verteidigung, ihre Aussagen in Zweifel zu ziehen und die angebliche "Verwechslung" als abgekartetes Spiel hinzustellen. Bei seinen Manövern kann sich der gerissene Anwalt Böck auf die Stimmung im Land verlassen, die nicht zuletzt durch die Geschworenen repräsentiert wird. Nicht nur Murer, ganz Österreich sieht sich als Opfer der Geschichte, an dem hier kollektiv Rache geübt werde. Vor den entsetzten Augen der Holocaust-Überlebenden fällt die Verdrehung der Tatsachen auf fruchtbaren Boden.
Geschickt vermengt Regisseur Christian Frosch Zum Inhalt: dokumentarische und fiktive Mittel zum packenden Spielfilm. Die Auflockerung der starren Prozesssituation gelingt durch einen multiperspektivischen Ansatz, der allen Parteien längere Spielszenen einräumt. Die aus aller Welt angereisten Überlebenden, Anwalt und Staatsanwalt, Journalisten und Geschworene – in Hotelzimmern, Restaurants, Büros oder in Murers Fall in der Zelle diskutieren sie ihre Motive und Strategien. So erschließen sich die politischen und menschlichen Hintergründe auch heutigen Zuschauer/-innen ohne entsprechendes Vorwissen. Im Prozess selbst hält eine Zum Inhalt: extrem mobile, mit langer Brennweite fokussierende Kamera das Geschehen in Bewegung. Während die Zeugen auf Hebräisch, Jiddisch, Englisch oder Deutsch die erlittenen Gräuel schildern, sammelt sie die Reaktionen im Publikum. Abgerundet wird diese erzählerische Dynamik durch exzellentes Schauspiel im doppelten Sinne: Auch ein Gerichtsprozess ist letztlich eine Bühne, auf der schauspielerische Qualitäten oft den Ausschlag geben.
Nüchtern, sensibel und zugleich hollywoodreif – im Film selbst wird mehrmals auf Sidney Lumets Klassiker "Die zwölf Geschworenen" (USA 1957) angespielt – beleuchtet das Gerichtsdrama ein dunkles Kapitel österreichischer Nachkriegsgeschichte. Wie in Zum Filmarchiv: "Im Labyrinth des Schweigens" (2014) über die zeitgleichen Frankfurter Auschwitzprozesse bewegt sich die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in einem Klima von Schlussstrichmentalität, Schuldabwehr und weiterschwelendem Antisemitismus. Im Geschichts- und Politikunterricht können so die Mechanismen nationaler Verdrängung oder der schwierige Begriff der "Kollektivschuld" analysiert und zugleich auf die Gegenwart bezogen werden: Wenn einem sozialdemokratischen Politiker im Film die Wählerstimmen der "Ehemaligen“" wichtiger sind als die Verurteilung eines mutmaßlichen Massenmörders, spiegeln sich darin auch heutige Probleme im Umgang mit Rechtsextremen.