Der Filmklassiker Zum Filmarchiv: "Die Reifeprüfung" von Mike Nichols kommt nach 50 Jahren frisch restauriert in die Kinos. Was könnte ein junges Publikum an dem Film heute interessieren?

Inhaltlich scheint mir die Ausgangsituation von "Die Reifeprüfung" auch 50 Jahre, also zwei Generationen später, diverse Anknüpfungspunkte für junge Erwachsene bereitzuhalten. Es geht darum, als junger Mensch nach Hause zu kommen und mit einem Berg von Erwartungshaltungen, Ratschlägen und Hilfestellungen konfrontiert zu sein. Der Film beschreibt dabei eine Zeit zwischen Fremdheit und Befremden, Coolness und Unbehagen, Zweifel und Lethargie. Simon & Garfunkels Liedzeile "Hello darkness, my old friend" bringt dieses Gefühl auf den Punkt – und Dustin Hoffman agiert diesen Zustand grandios und identitätsstiftend aus. Neben Mode, Zeitgeist, Ausstattung und Musik kann der Film sicherlich durch seinen Humor und seinen Drive bei einem heutigen jugendlichen Publikum neue Türen öffnen.

Den Vorwurf des Desinteresses von Kindern und Jugendlichen an "alten" Filmen können Sie demnach nicht teilen?

Wir haben mit unseren verschiedenen Filmvermittlungsangeboten für Schüler/-innen, aber auch mit dem Nachmittagsprogramm für Familien in der Tat immer wieder andere Erfahrungen gemacht. Seit einiger Zeit präsentieren wir unter dem Titel "Großes Kino, kleines Kino" frühes und experimentelles Kino zum Teil auch für Kinder ab fünf Jahren, die ein extrem begeisterungsfähiges und offenes Publikum sind. Diese Veranstaltungen vermitteln auch Erwachsenen viel über die Wahrnehmungswelt von Kindern im Kino.

In Zeiten von Streaming-Portalen und bis zu 18 Kinostarts pro Woche scheint es schwieriger zu werden, auch die Relevanz von älteren Filmen hervorzuheben. Wie kann die Filmvermittlung diesem medialen Überangebot begegnen?

Innerhalb dieses gigantischen medialen Dauerangebots und im Vergleich mit der Flut der Monitore, Displays, Screens und Boards schafft das Kino eine an keinem anderen Ort reproduzierbare Wahrnehmung. Die Konzentration des Sehens und Hörens und das gemeinsame Sichten sind zentrale Elemente der Kinoerfahrung. Das Kino hat damit noch immer ein großes, wesentliches Potential, das auch von Kindern und Jugendlichen als solches wahrgenommen wird.

Ist das Kino deshalb weiterhin so wichtig zur Vermittlung der Filmgeschichte, gerade für Kinder und Jugendliche?

Nicht nur zur Vermittlung der Filmgeschichte, sondern auch um andere unabhängige und experimentelle Filme vermitteln zu können. Dem Kino als Ort kann im besten Fall eine andere Offenheit und Neugier entgegengebracht werden, eben weil sich die Rezeption dort so grundlegend von anderen Rezeptionsformen und -foren unterscheidet.

"Die Reifeprüfung" wurde unter großem technischen und finanziellen Aufwand in Bild und Ton vollkommen neu digital von der 35mm-Kopie abgetastet. Die Mittel für ein solches Verfahren stehen nur wenigen Filmen zur Verfügung. Wie schaffen Sie es, Ihre Filme für die Ewigkeit zu erhalten?

Wir verfügen mittlerweile über gut 8.000 analoge Kopien, hinzu kommen ca. 2.000 digitale Filme. Immer wieder zeigt sich, dass einige Filme nur bei uns überlebt haben und wir über die einzigen erhaltenen Kopien dieser Filme verfügen. Für diese, aber natürlich auch für die anderen Kopien, haben wir eine Verantwortung. Dabei geht es zum einen schlichtweg um die Sicherung des Materials, aber auch darum, die Filme öffentlich zugänglich zu machen. Für aufwendige Restaurierungen oder Digitalisierungen stehen in unserem Haushalt allerdings keine Mittel zur Verfügung, dafür werden zusätzliche Fördermittel benötigt. Mit deren Hilfe haben wir in den letzten Jahren dennoch eine Vielzahl von Filmen restaurieren und digitalisieren können.

Sie kuratieren die regelmäßig im Arsenal laufende Filmreihe "Magical History Tour", bei der man Filmklassiker (neu) sehen kann. Dabei präsentieren Sie von Stummfilmen bis zu Zum Filmarchiv: "Jurassic Park" eine große Bandbreite an Filmen. Was macht einen Film zum Klassiker?

Es gibt verschiedene Komponenten, mit denen Filmen ein Klassikerstatus zugeschrieben wird, etwa der Bekanntheitsgrad, die Qualität oder die stilistische Bedeutung eines Films. Persönlich kann ich am meisten etwas mit dem Aspekt der Zeitlosigkeit anfangen. Das ist natürlich ein hoch subjektives Merkmal. Für mich ist es wichtig zu fragen, ob man nach 20, 50 oder 100 Jahren noch einen persönlichen Zugang zu einem Film findet. Berührt oder irritiert mich ein älterer Film heute noch? Das ist für mich eher ausschlaggebend als es andere Kriterien für Klassiker sein mögen, die stärker an gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen gebunden sind.

Gibt es Klassiker, die Ihrer Meinung nach schon für Jugendliche unverzichtbar sind?

Bei der Filmvermittlung geht es mir weniger um eine Liste vermeintlicher Klassiker, die man gesehen haben müsste, als darum, unterschiedliche Angebote und Vorschläge zu machen. Es geht darum, Neugier zu wecken und mit einer Vorführung Lust auf die nächste zu machen. Dabei soll natürlich das Kino als besonderer Wahrnehmungsraum mit der künstlerischen, politischen und persönlichen Auseinandersetzung verankert werden.

Mehr zum Thema