Kategorie: Filmbesprechung
"Mit siebzehn"
Quand on a 17 ans
Coming-of-Age-Film: André Téchiné erzählt in "Mit siebzehn" von zwei Jungen, die sich über ihre Gefühle füreinander erst langsam klar werden.
Unterrichtsfächer
Thema
In einer Zum Inhalt: Kleinstadt in den französischen Pyrenäen besuchen Thomas und Damien dieselbe Klasse des Gymnasiums. Unter den Schülerinnen und Schülern sind die beiden 17-Jährigen Außenseiter. Ansonsten haben sie allerdings wenig gemein. Thomas, der maghrebinische Wurzeln hat und von einem Bauernehepaar adoptiert wurde, lebt in einfachen Verhältnissen auf einem Berghof. Unter dem langen Schulweg und der Arbeit im elterlichen Betrieb leiden seine Noten, zumal er seine freie Zeit lieber in den Wäldern als über Büchern verbringt. Dagegen ist Damien, wohlbehüteter Sohn der Landärztin Marianne und eines Armeepiloten, ein Feingeist, der Rimbaud rezitiert und mathematische Probleme souverän an der Tafel löst. Offenbar verbindet die zwei Jugendlichen vor allem eines: eine gegenseitige Abneigung, die zunehmend aggressive Züge annimmt. Dann aber lernt Marianne Thomas kennen, als sie dessen Mutter behandelt, die nach mehreren Fehlgeburten wieder schwanger ist. Da sie ins Krankenhaus muss, bietet Marianne der Familie Hilfe an: Damit Thomas in Ruhe lernen kann, soll er zu ihr und Damien in die Stadt ziehen. Gezwungen, zusammen unter einem Dach zu wohnen, verschärfen sich zunächst die Spannungen zwischen den beiden Jungen. Doch dann kommen sich die ungleichen Teenager allmählich näher. Bis Damien Thomas offenbart, dass er sich in ihn verliebt hat.
Ein Coming-of-Age-Film ohne Klischees
1994 feierte André Téchiné mit "Wilde Herzen" , der autobiografisch inspirierten Geschichte zweier Internatsschüler, die in den frühen 1960er-Jahren ihr schwules Coming-Out erleben, einen seiner größten Erfolge. In "Mit siebzehn" greift der Altmeister des französischen Autorenfilms das Thema nun wieder auf. Dabei zeigt der frühere Filmkritiker der Cahiers du Cinéma nicht nur abermals sein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen in das Innenleben von Jugendlichen. Er beweist auch erneut seinen wachen Blick für gesellschaftliche Realitäten: Nuanciert entwickelt der Film die feinen Unterschiede der sozialen Milieus, die sich auch im Verhalten der beiden Jungen niederschlagen – etwa in Thomas' Unfähigkeit, seine Ängste in Worte zu fassen, oder in Damiens Arroganz, mit der er seine Unsicherheit kaschieren will. Téchinés Meisterschaft, lebensnahe Charaktere zu kreieren, äußert sich auch in der Selbstverständlichkeit, mit der sein Film Klischees des Zum Inhalt: Coming-of-Age-Genres wie das der verständnislosen Eltern unterläuft. So sind weder Thomas' Adoptiveltern unsensible Hinterwäldler, noch erweist sich Damiens häufig zum Auslandseinsatz abgestellter Vater als gefühlskalter Soldat. Einmal offenbart er gar eine "feminine" Seite, als er seiner Frau via Skype berichtet, dass er ihr Parfüm aufgelegt habe.
Zu dritt unter einem Dach
Zur – neben den Jungen – dritten Hauptfigur des Films avanciert jedoch Marianne, die zu Thomas ein herzliches Verhältnis entwickelt. Dass sie ihn gegenüber ihrem Sohn als gutaussehend bezeichnet, erregt Damiens Misstrauen. So baut sich zwischen den Dreien ein Spannungsfeld auf, in dem die Grenze zwischen Jugend und Erwachsenenwelt ebenso durchlässig wird wie jene zwischen den Geschlechtern und den sozialen Milieus. Für Téchiné liegt darin nichts Destruktives, im Gegenteil. Trotz der emotionalen Turbulenzen seiner drei Figuren zeigt er ihr gegenseitiges Interesse als eine verbindende Kraft. Am deutlichsten wird dies in der Beziehung von Thomas und Damien. Dass "Mit siebzehn" ein ungewöhnlich dialogarmer Beziehungsfilm ist, liegt auch darin begründet, dass die Jungen ihre Emotionen nicht verbal ausdrücken. So ersetzt der Zum Inhalt: bewegte Blick der Handkamera gewissermaßen den Dialogtext. Und tatsächlich gelingt es Téchiné, die Verunsicherung und Ängste seiner beiden Helden, aber auch ihre Neugierde und Euphorie visuell einzufangen – und damit die für ihr Alter spezifische Intensität des Fühlens.
Kino der Körperlichkeit
Zugleich betonen die Bilder das Spannungsverhältnis zwischen den Teenagern, das sich in immer heftigeren Kämpfen entlädt. Die auffällige Körperlichkeit, die den Film von Beginn an prägt, besonders deutlich in den Zum Inhalt: Szenen, die Thomas bei der Hofarbeit oder in freier Natur zeigen, spitzt sich in diesen Auseinandersetzungen zu. Vollständig löst sich die Spannung erst auf, als Thomas und Damien schließlich miteinander schlafen. Den Akt filmt Téchiné ungeschönt mit einer physischen Direktheit, die die Erregtheit der Liebenden zeigt, ohne die Schaulust des Publikums zu bedienen. Auch als die beiden Jugendlichen am Morgen mit entblößtem Geschlecht nebeneinander im Bett liegen, wirkt das nicht demonstrativ oder skandalös. In seiner unverklemmten Sinnlichkeit zeugt das Bild vom Glücksgefühl, nach vielen Wirrungen und Frustrationen endlich die erste Liebe gefunden zu haben.
Eine universelle Geschichte
Téchiné hat seinem Film einen Titel gegeben, der suggeriert, dass die Geschichte von Thomas und Damien durchaus exemplarisch zu verstehen ist. Ebenso weist die an das französische Schuljahr angelehnte Gliederung in Trimester darauf, dass die Gefühle und Probleme, mit denen die beiden Jungen konfrontiert werden, zur Schule des Lebens gehören, die – ob homosexuell oder nicht – so oder ähnlich alle Heranwachsenden durchlaufen müssen. Wie die Geburt und den Tod, die im Film ebenfalls ihren Platz finden, sieht Téchiné das sexuelle Erwachen als zentrales Ereignis der menschlichen Existenz.