Ein DAAD-Stipendium führt die New Yorker Filmeditorin und Künstlerin Shelly Silver 1992 nach Deutschland. Mehr als ein Jahr lang führt sie in Berlin (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set), überwiegend mit Passantinnen und Passanten, hunderte Interviews (Glossar: Zum Inhalt: Talking Heads) zu Themen wie den Folgen der Wiedervereinigung, nationale Identität und Migration. Dabei wird deutlich, dass die Euphorie des Mauerfalls längst abgeebbt ist. Stattdessen kristallisieren sich Existenzängste, Fremdheit und Vorbehalte zwischen Ost- und Westdeutschen und eine grundlegende Skepsis gegenüber der Möglichkeit demokratischer Partizipation heraus. Nicht selten werden auch nationalistische und rechtsextreme Töne laut. "Former East/Former West" porträtiert eine Stadt, die wenige Jahre nach dem Fall der Mauer die fast drei Jahrzehnte dauernde Trennung noch nicht überwunden hat.

Shelly Silver übersetzt ihre Wahrnehmung einer Stadt im Aufbruch in Kameraeinstellungen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen), die fahrende S- und U-Bahnen zeigen. Die damit einhergehende Orientierungslosigkeit spiegelt sich in Bildern von Straßenkreuzungen wider, auf denen die Verkehrsteilnehmer/-innen nach einem Regelsystem zu suchen scheinen. Den Großteil des essayistischen Zum Inhalt: Dokumentarfilms nehmen jedoch die Passagen mit den oft sehr kurzen Interviewausschnitten ein. Auf ein erklärendes Zum Inhalt: Voiceover verzichtet Silver dabei. Auch ihre Fragen ergeben sich in der Regel nur aus der Zum Inhalt: Montage der Antworten. Häufig leitet ein Aspekt eines Themenkomplexes zu einem neuen gedanklichen Abschnitt über: So taucht am Ende einer anderthalbminütigen Zum Inhalt: Sequenz zum Thema Freiheit ein Satz zur "Meinungsfreiheit" auf, der anschließend durch die montierten Redebeiträge diskutiert wird. Durch seine Vielstimmigkeit stellt Silvers Film ein wichtiges Zeitzeugnis dar. Die Dominanz der Talking Heads mindert indes das Sehvergnügen. Silver hätte sich mehr auf ihr Gespür für poetische Bilder verlassen können. So montiert sie beispielsweise die Eindrücke der Begegnungen von ehemaligen Ost- und Westberliner/-innen mit einem Werbeplakat, das die vorsichtige Berührung zweier schwerelos schwebender Astronaut/-innen zeigt.

In der Sekundarstufe I bietet sich im Geschichts- und Politikunterricht die Arbeit mit thematisch ausgesuchten Sequenzen an. Eine detaillierte Übersicht hierzu findet sich im didaktisch-methodischen Kommentar des Arbeitsblatts zu "Former East/Former West" . Mit einzelnen thematischen Abschnitten kann in Form von Quellenanalysen gearbeitet werden. Anknüpfend an die Untersuchung des erzählerischen Konzepts können die Schülerinnen und Schüler in den Gesellschaftswissenschaften einen Fragenkatalog erstellen, der die Grundlage für ein aktuelles Zeitdokument bilden könnte. Im Deutschunterricht der Oberstufe sollte der Fokus im Rahmen der Unterrichtsreihe "Film als eigenständiges Medium" auf der Bildsprache liegen. Mithilfe der Zum Inhalt: Mise-en-scene verdichtet Shelly Silver Aspekte der Interviews. Ebenso kann die Offenheit und vermeintliche Unbedarftheit der Interviewten thematisiert werden, die heute, in Zeiten von Social Media und der permanenten Verfügbarkeit von Videobildern, ungewöhnlich erscheint.

Wichtiger Hinweis:

Der Dokumentarfilm "Former East, Former West" steht zur kostenlosen Online-Sichtung in der Zum externen Inhalt: Mediathek der bpb (öffnet im neuen Tab) zur Verfügung.

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