Kategorie: Einleitung
Werner Herzog – ein Grenzgänger des Kinos
Vor 80 Jahren wurde Werner Herzog geboren. Die Einführung stellt das vielfältige und unverwechselbare Werk des eigenwilligen Autorenfilmers vor.
Werner Herzog gilt als einer der bedeutendsten und zugleich exzentrischsten Filmemacher des deutschen Kinos. Legendär sind insbesondere seine fünf Filme mit Klaus Kinski, darunter "Aguirre, der Zorn Gottes" (BRD, MEX, PER 1972) und Zum Filmarchiv: "Fitzcarraldo" (BRD, PER 1982), in denen der oft umstrittene "Visionär" und ein nicht weniger schwieriger Schauspieler aufeinandertrafen und auch miteinander rangen. In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren zählte er neben Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Wim Wenders zur Riege der Autorenfilmer, die dem Zum externen Inhalt: Neuen Deutschen Film (öffnet im neuen Tab) internationale Anerkennung verschafften. Vor allem in Deutschland ist der Ruf Herzogs auf den des Grenzgängers zwischen Genie und Wahn beschränkt. Darüber hinaus findet sein vielseitiges Werk eher wenig Beachtung. So hat er nicht nur mehrere Bücher verfasst und weltweit mehr als 30 Opern inszeniert. International haben ihm in den letzten Jahren vor allem seine Zum Inhalt: Dokumentarfilme eine Art Kultstatus beschert. Seit jeher darauf beharrend, zwischen dokumentarischen und fiktionalen Mitteln keinen Unterschied zu sehen, erachtet Herzog diese Dokumentarfilme dennoch als zentral zum Verständnis seines Werks. Immer geht es ihm um originäre Bildschöpfungen, und stets ist er dabei auf der Suche nach der – sein geheimnisvollster Begriff – "ekstatischen Wahrheit".
Unabhängig und umstritten – von Anfang an
Geboren 1942 in München, wuchs Werner Herzog in einem bayerischen Bergdorf nahe der deutsch-österreichischen Grenze auf. Mit 14 konvertierte er zum Katholizismus. Schon nach seinem ersten Zum Inhalt: Kurzfilm gründete der Autodidakt 1963 seine eigene Produktionsfirma "Werner Herzog Filmproduktion". Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits an einem Filmseminar in Pittsburgh in den USA teilgenommen, ein reguläres Filmstudium hingegen absolvierte er nie. Für seinen ersten Spielfilm erhielt der unabhängige Jungfilmer – er produziert bis heute vorzugsweise mit seinem jüngeren Bruder Lucki Stipetić – ein Darlehen des Zum externen Inhalt: Kuratoriums junger deutscher Film (öffnet im neuen Tab). Mehrere seiner später wiederkehrenden Motive treten in "Lebenszeichen" (BRD 1968) bereits auf: Ein deutscher Besatzungssoldat auf der griechischen Insel Kos, der eine Festung bewachen soll, verliert darüber den Verstand. Ob dafür allerdings der Krieg verantwortlich ist, oder vielmehr die eintönige Landschaft, bleibt unklar. Der Film erlebte seine Premiere bei der Berlinale und wurde weltweit auf Festivals gezeigt.
Herzogs nächster Spielfilm "Auch Zwerge haben klein angefangen" (BRD 1970) provozierte den ersten von vielen Skandalen seiner Karriere. Die Darstellung kleinwüchsiger Heiminsassen, die darin gewaltsam die Anstalt übernehmen, stieß auf heftige Kritik bis hin zu Faschismusvorwürfen. Die einflussreiche Zeitung Christ und Welt sollte 1976 schreiben: "Herzogs Filmographie liest sich wie eine Statistik skrupellos ausgeschlachteter menschlicher Schwächen." Damit waren auch die zwei Dokumentarfilme zum Thema Behinderung gemeint, die der in den 1970er-Jahren als "unpolitisch" geltende Filmpoet, vielleicht zur Beschwichtigung, danach gedreht hatte. Ein Film wie "Land des Schweigens und der Dunkelheit" (BRD 1971), in dem er die taubblinde 56-jährige Fini Straubinger porträtiert, gilt heute als überaus feinfühlige Reflexion des Umgangs mit physisch beeinträchtigten Menschen. Herzogs Filme sind keineswegs, oder nicht nur, auf Provokation aus. Sie stellen Normen infrage, beobachten in einer komplexen Balance von Distanz und Nähe, verzichten auf vordergründige Identifikation und offensichtliche Gesten des Mitleids. Er filmt für jene "ekstatischen Momente", die sich einstellen, wenn etwa Straubinger mit anderen Taubblinden ihre erste Flugreise macht. Die berauschende Überwindung der Schwerkraft, die sich hier in den beglückten Gesichtern abzeichnet, ist ein weiteres seiner durchgängigen Motive.
Besessene Eroberung der Natur
In einen Rausch ganz anderer Art stürzt sich der ruchlose Konquistador Don Lope de Aguirre, gespielt von Klaus Kinski, in "Aguirre, der Zorn Gottes" . Aber auch er überwindet, auf seiner wahnhaften Suche nach dem sagenhaften El Dorado auf einer Südamerikaexpedition im 16. Jahrhundert, Höhen und Tiefen. Die Parallele zu Herzogs größtem Publikumserfolg "Fitzcarraldo" , in dem ein vom Bau eines Opernhauses im peruanischen Regenwald besessener Abenteurer ein Schiff über einen Urwaldberg schleppen lässt, ist offenkundig. Vor allem diese beiden Filme zementierten das Image von Herzog als größenwahnsinnigem "Titan", der zur Darstellung übermenschlicher Anstrengungen die Nerven aller Beteiligten strapaziert. Über den Umgang mit den indigenen Statist/-innen, die das Schiff – und nicht etwa ein Miniaturmodell – zumindest teilweise tatsächlich über die Berge zogen, wurde auch in der Bundesrepublik heftige Debatten geführt. Vor dem Hintergrund kolonialer Verbrechen ist der exzentrische Musikliebhaber Fitzcarraldo sowenig unschuldig wie Herzog selbst, und sein väterlicher Blick auf indigene Völker mindestens problematisch. Gerade in "Aguirre" aber lässt sich seine Mischung aus Stilisierung und dokumentarischer Präsenz besonders gut beobachten. Der Gewaltmarsch durch den "Dschungel" ist eine physische und psychische Grenzerfahrung, von Beginn an umfängt die reale Begegnung mit einer unbarmherzigen Natur die mystische Aura eines Fieberwahns.
Der romantische Expressionist – Werner Herzog und Deutschland
Waren Herzogs internationale Großproduktionen auch ein Versuch, der Enge der deutschen Filmfinanzierung zu entkommen, zeigen seine heimischen Produktionen eine intensive Auseinandersetzung mit deutscher Identität und Kultur. Als Filmemacher wie als Literat sieht sich Herzog der deutschen Romantik sowie dem Expressionismus verpflichtet. "Herz aus Glas" (BRD 1976), sein Exkurs in den Zum externen Inhalt: Neuen Heimatfilm (öffnet im neuen Tab), das Murnau-Remake "Nosferatu – Phantom der Nacht" (BRD, F 1979) und die Theateradaption Zum Filmarchiv: "Woyzeck" (BRD 1979) strebten nach einer "Legitimierung" deutscher Kultur, deren Traditionen durch die nationalsozialistische Schreckensherrschaft verschüttet waren. Zur wichtigen Fürsprecherin wurde ihm die berühmte, vor dem Regime ins Exil geflüchtete Stummfilmkritikerin Lotte Eisner, die Friedrich W. Murnau und Fritz Lang noch persönlich gekannt hatte. Herzogs im Jahr 1974 unternommener Fußmarsch von München nach Paris, mit dem er die kranke 78-Jährige "vom Sterben abhalten" wollte, wurde zum wichtigen Baustein des eigenen Mythos.
Auch "Jeder für sich und Gott gegen alle" (BRD 1974), seine Aneignung des Mythos Kaspar Hauser, reflektiert die inneren Seelenzustände einer "vaterlosen Generation". Das 1828 in Nürnberg aufgetauchte Findelkind, zunächst unfähig zu sprachlichem Ausdruck, wird von einer interessierten, aber letztlich verständnislosen Gesellschaft erzogen, abgerichtet und schließlich von einem Unbekannten ermordet. Es handelt sich um ein zentrales Werk des Filmemachers, vor allem durch die Besetzung mit seiner Entdeckung, dem damals bereits 41-jährigen Berliner Hinterhofmusiker Bruno S., der seine leidvolle Erfahrung als Heimzögling in die Rolle einbrachte. Eine ganz andere Figur als der Egomane Kinski, mit eigenwilligem Sprachduktus, prägte der Laienschauspieler auch Zum Filmarchiv: "Stroszek" (BRD 1977). Mit dem in Berlin und den USA spielenden Zum Inhalt: Roadmovie dekonstruierte Herzog nach dem deutschen auch den amerikanischen Traum.
Vom "Eroberer des Nutzlosen" zum internationalen Star
Herzogs Helden – anders als bei Fassbinder sind es fast ausschließlich Männer – sind Außenseiter, gequälte Kreaturen wie Woyzeck, armselige "Übermenschen" wie Aguirre oder grandios Scheiternde wie Fitzcarraldo. Wie ihr Schöpfer leiden sie an Ängsten und Zweifeln, Heimatlosigkeit und Isolation, und stürzen sich daraus in Fiktionen des eigenen Lebens. Das deutsche Publikum konnte oder wollte sich damit wenig identifizieren. Seine Reputation im Ausland steht dazu in verblüffendem Gegensatz. In den USA entwickelte sich die DVD-Publikation von "Nosferatu" im Jahr 1999 zum Kassenschlager. Einen weiteren Popularitätsschub brachten die Dokumentarfilme "Mein liebster Feind" (UK, D, FIN, USA 1999), über die teils haarsträubende Zusammenarbeit mit Kinski, und "Grizzly Man" (USA 2005) über das tödliche Aufeinandertreffen des Naturforschers Timothy Treadwell mit einem Bären.
Herzog lebt und arbeitet heute in Los Angeles, ist gefragter Gesprächsgast in Filmakademien und hat gelegentliche Gastauftritte als Filmbösewicht in Hollywood Zum Inhalt: blockbustern ("Jack Reacher" , USA 2012, R: Christopher McQuarrie). Mit nachlassendem Erfolg hat er auch weiterhin Spielfilme gedreht, etwa die Wüstenabenteuer "Königin der Wüste" ("Queen of the Desert" , USA, MAR 2015) und "Salt and Fire" (D, USA, F, MEX, BOL 2016), in denen einmal mehr sein ehrfürchtiges Verhältnis zu Landschaften zum Ausdruck kam. Doch vor allem durch seine Stimme bleibt er weiterhin eine Marke. Sie hat ihm nicht nur eine Sprechrolle bei "Die Simpsons" (USA, 1989 bis heute) verschafft. Mit ihrem bajuwarischen Akzent als unheimlich und zugleich vertraut wahrgenommen, macht sie Dokumentarfilme wie seine Serie ("On Death Row" , USA, UK, AUT 2012-13) immer noch zum Ereignis. Werner Herzog, jener "Eroberer des Nutzlosen" (nach seinem Produktionstagebuch zu "Fitzcarraldo" ) ist ein Gesamtkunstwerk, das die Enge seiner geistigen Heimat längst hinter sich gelassen hat.
Vom 25.8.2022 bia 27.3.2023 stellt die Deutsche Kinemathek in Berlin das umfangreiche Werk des Filmemachers in der Zum externen Inhalt: Ausstellung Werner Herzog (öffnet im neuen Tab) vor.