Kategorie: Filmbesprechung
"Das Licht, aus dem die Träume sind"
Last Film Show
In der indischen Provinz entdeckt ein Junge seine Liebe zum Kino und versucht fortan, der Magie des Lichts auf die Schliche zu kommen. Nan Palins Film "Das Licht, aus dem die Träume sind" ist eine liebevolle Hommage an das analoge Kino.
Unterrichtsfächer
Thema
2010. Ein altes Provinz-Kino im indischen Gujarat zeigt noch 35mm-Filme (Glossar: Zum Inhalt: Filmformate), als der neunjährige Samay mit Eltern und Schwester zum ersten Mal eine Vorstellung besucht. Gebannt von Licht und Illusion im Kinosaal, dem Rattern des Projektors und einer blauhäutigen Göttin auf der Leinwand, will der Junge fortan nur noch eins: Licht verstehen und wissen, wie daraus Geschichten erschaffen und aus Geschichten Träume werden. Doch Filme ohne religiösen Inhalt gelten Brahmanen (ehemals Priester), der vererbten Kaste seiner Familie, als unrein.
Samay lebt im Dorf, unweit einer Bahnstation, wo sein Vater eine Teebude für Zugpassagiere betreibt. Der Junge beginnt die Schule zu schwänzen, um heimlich – ohne zu zahlen – im nächsten größeren Ort im Kino Galaxy Filme zu schauen. Wie Millionen anderer Inder/-innen aus armen Verhältnissen erlebt Samay dort Momente der Emotion und Zerstreuung. Zufällig lernt er den Filmvorführer Fazal kennen. Dieser ist so begeistert vom köstlichen Essen, das Samays Mutter für die Schulpausen kocht, dass er den jungen Kino-Fan im Tausch für seine Lunchbox im Projektorraum die Vorführungen sehen lässt und in die Geheimnisse des Zelluloids einweiht.
Samays Experimentierfreude an optischen Phänomenen ist geweckt: Erst nutzt er Glasscherben und Filmschnipsel spielerisch als "Brille", dann stiftet er seine Freunde an, filmische Bewegtbilder nachzustellen und eine Laterna Magica zu bauen. Schließlich setzen sie in einem verlassenen "Geisterdorf" einen Projektor aus Schrottteilen zusammen, stehlen sogar Filmrollen und veranstalten eine Vorführung, erst stumm, dann mit selbsterzeugten Geräuschen zum Spaß der Dorfbewohner/-innen.
Hommage an das analoge Kino
Regisseur Pan Nalin ("Samsara" , DE/FR/IT/IN 2001; "7 Göttinnen" , IN/DE 2015) will in seinem teils autobiografischen Film nach eigenen Worten von einem besitzlosen "Niemand im Nirgendwo" erzählen. Zuallererst aber vermittelt sein Film lebhaft seine Faszination für das analoge Kino – und das nicht nur in Gestalt von Samay. So hat Nalin in die Handlung zahllose Zitate aus der Filmgeschichte gewoben: Eadweard Muybridges vorfilmische Bewegtbilder werden ebenso nachgestellt wie "Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat" ( "L'arrivée d'un train à La Ciotat" , FR 1895) von den Brüdern Lumière, oft als Geburtsstunde des Films bezeichnet und bereits 1896 in Bombay vorgeführt. Andere Zum Inhalt: Szenen verweisen wiederum auf Andrei Tarkowskis Zum Filmarchiv: "Stalker" (UdSSR 1978/79) oder Stanley Kubricks Zum Filmarchiv: "2001 – Odyssee im Weltraum" ("2001: A Space Odyssey" , GB/USA 1968). An letztgenannten erinnern auch die Lichtblitze, mit denen Nalin dramatische visuelle Akzente setzt, um Samays Entwicklungssprünge anzudeuten. Sie stehen beispielhaft für die vielen stimmungsvollen Lichtinszenierungen (Glossar: Zum Inhalt: Licht und Lichtgestaltung), die im Film die Magie des Lichts in einem breiten Spektrum erleben lassen.
Produzent Dheer Momay (Glossar: Zum Inhalt: Filmproduktion), heute ein wichtiger Player in der indischen Filmbranche, musste für die Finanzierung von "Das Licht, aus dem die Träume sind" Partner in Frankreich und Belgien suchen, da der Film ohne Gesang und Tanz auskommt und in der Lokalsprache Gujarati gedreht ist – beides unüblich in der Bollywood-Filmindustrie. Nalin ist als Filmemacher gleichermaßen dem internationalen Kino wie dem indischen Film verbunden. Das zeigt sich auch in der Besetzung. Hauptdarsteller Bhavin Rabari, wie Samay im Bundesstaat Gujarat geboren und wie die anderen Kinder im Film unter 3.000 Laien gecastet, erinnert in der Rolle des Jungen aus einfachen Verhältnissen an Antoine Doinel in François Truffauts Zum Filmarchiv: "Sie küssten und sie schlugen ihn" ("Les quatre cents coups" , FR 1959) oder auch an den jungen Salvatore in Giuseppe Tornatores "Cinema Paradiso" (IT 1988). Dipen Raval, der den strengen wie hilflosen Familienpatriarchen verkörpert, dem die fürsorgende Mutter zur Seite steht, ist dagegen ein bekannter indischer Filmkünstler, ebenso Richa Meena in der Rolle von Samays Mutter, zuletzt ausgezeichnet für das Drama "Kasaai" (Gajendra Shanker Shrotriya, IN 2019). In "Das Licht, aus dem die Träume sind" hat sie kaum Dialog, kocht dafür umso sinnlicher. Mehr Raum erhält die Figur des lebensklugen Fazal, ein Muslim mit einfacher Schulbildung und ohne Vorbehalte gegenüber der hinduistischen Religion Samays, dargestellt von Bhavesh Shrimal, einem indischen Serienstar, in seiner ersten Leinwandrolle.
Mit dem Kino wandelt sich auch die Gesellschaft
Ähnlich wie indische Klassiker von Satyajit Ray ist der nostalgische Arthouse-Film in ruhigen Aufnahmen in warmen Farben (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) gedreht, die das Idyll einer ländlichen Lebensweise unterstreichen. Umso härter ist der Kontrast zur Stadt: In einer schon fast apokalyptisch anmutenden Zum Inhalt: Sequenz folgt dort der auch als Zum Inhalt: Dokumentarfilmer bekannte Nalin ("Ayurveda – Art ofe Being" , DE/CH 2000) Samay mit der Kamera bis zu einer Fabrik, wo alte Filmrollen auf eine Halde gekippt, eingeschmolzen und schließlich zu billigen Armreifen verarbeitet werden. Ein ähnliches Schicksal erfährt auch Samays "Traummaschine": Hilflos muss der Junge mitansehen, wie der mächtige Projektor, den er im Vorführraum huldvoll geküsst hatte, am Ende des Films abtransportiert, verschrottet und letztlich zu Esslöffeln recycelt wird. Den neuen Computer für die digitale Kinoprojektion (Glossar: Zum Inhalt: Digitalisierung) kann Samays Freund, der sanfte Fazal, ohne Englischkenntnisse nicht mehr bedienen. Der Wandel der Zeit vollzieht sich aber nicht nur im Kino, sondern deutet sich auch in leiseren Zum Inhalt: Szenen an – etwa als Ingenieure dem Vater mitteilen, dass zukünftig mit Einführung der Breitspur kein Zug mehr an der Station hält. So wird wie der Filmvorführer auch der Teeverkäufer überflüssig.
Ein kritischer Kommentar zur indischen Gegenwart
Pan Nalin – heute preisgekrönt und "Non-Resident-Indian" – kritisiert zudem unaufdringlich die gesellschaftliche Gegenwart seines Geburtslandes. Als es in Samays Schulunterricht um lokale Berühmtheiten geht, wird Gandhi genannt, Vorbild für Gewaltlosigkeit (ahimsa). Fazals Sufismus-Liebe sowie die im Vorführraum gezeigten Ausschnitte des Bollywood-Epos "Jodhaa Akhbar" (Ashutosh Gowariker, IN 2008) über den bedeutenden Mogul-Herrscher stehen für Indiens einstige Toleranz. So wirkt das brüderlich gemeinsam geteilte Essen von Samay und Fazal ungeachtet ihrer verschiedenen Herkunft fast utopisch im heutigen Indien, wo Religion und Politik allzu oft eine toxische Mischung bilden, die Hass und Spaltung zwischen Hindus und Muslim/-innen säht.