Kategorie: Interview
"Es gibt keine Persönlichkeitseigenschaft, die zum Mobbing führt"
Die Psychologin Annegret Mahn erläutert, unter welchen Voraussetzungen Mobbing entsteht und welche Handlungsmöglichkeiten Opfer, Eltern und Lehrende haben.
Die Diplom-Psychologin Annemarie Mahn sammelte berufliche Erfahrungen in den Bereichen Testpsychologie, Coaching und in der Organisationspsychologie in der Industrie. Seit neun Jahren betreut und berät sie im Rahmen des Vereins Leuchtfeuer e.V. Kinder und Jugendliche. Für den schulpsychologischen Dienst in Berlin ist sie in der Mobbing-Prävention und -Intervention tätig.
Frau Mahn, wann kann man von Mobbing sprechen?
Mobbing ist schikanöses Verhalten anderen gegenüber, vor allem durch verbale Attacken. Dabei spielt eine Rolle, dass sich dieser Prozess über einen längeren Zeitraum hinzieht und in einer bestimmten Frequenz stattfindet. Im Berufsleben redet man nach einem halben Jahr von Mobbing, bei Schüler/ -innen ist dies durch den engen Kontakt deutlich verkürzt. Oftmals sind sich die Opfer gar nicht bewusst, dass es sich um Mobbing handelt. Sie suchen die Schuld zuerst bei sich und überlegen, was sie falsch gemacht haben. Angriffe werden somit gar nicht als solche interpretiert.
Gibt es Charaktereigenschaften oder Verhaltensmerkmale, die einen Menschen zum Mobbing-Opfer prädestinieren?
Mobbing hängt von gruppendynamischen Prozessen ab. Jemand, der anders ist als die Gruppe, kann leichter zum Opfer werden. Dabei ist es egal, ob sich jemand anders kleidet, leistungsstärker ist oder sich in anderer Form abhebt. Die Forschung hat gezeigt, dass es keine Persönlichkeitseigenschaft gibt, die zum Mobbing führt. Das heißt, jeder kann zum Opfer werden. Wenn diese Erfahrung nicht richtig aufgearbeitet wird, werden in manchen Fällen aus Opfern auch Täter.
Woran kann man in Schulklassen Mobbing frühzeitig erkennen?
Kinder werden häufig für Mobbing „freigegeben“, d. h., das Lehrpersonal gibt – bewusst oder unbewusst – zu erkennen, dass Ausgrenzung nicht sanktioniert wird. Ein typisches Anzeichen ist, dass die Schüler/-innen nicht mit einem Kind zusammenarbeiten wollen. Hier müssen die Pädagog/-innen einschreiten und klar signalisieren, dass Ausgrenzung nicht geduldet wird. Es geht darum, ein Klassenklima zu schaffen, in dem Probleme besprochen werden können.
Welche Handlungsmöglichkeiten haben Eltern?
Eltern müssen das Thema sehr ernst nehmen. Sie müssen sich in einem solchen Fall direkt an die Lehrenden wenden. Eltern sollten jedoch nicht in direkten Kontakt mit den Eltern der anderen Kinder treten. Ebenso wichtig ist es, das Kind zu unterstützen, indem die Eltern schauen, was es braucht, um das Mobbing auszuhalten, und welche Form der Erholung von dem psychischen Stress möglich sein kann. Leider neigen Eltern oft dazu, ihr Kind zu befragen, welchen eigenen Anteil es an der Situation hat. Das ist hierbei nicht produktiv.
Welche Möglichkeiten haben alle Beteiligten – Schüler/-innen, Lehrende und Eltern, Mobbing vorzubeugen?
Unsere Erfahrung zeigt, dass viel von einem guten Schulklima abhängt. Auch Schüler/-innen können dabei helfen. Präventive Maßnahmen wären, Lehrende und Schüler/-innen zu sensibilisieren, damit Konflikte frühzeitig erkannt und Lösungen gefunden werden können. In einem Umfeld, in dem sich die Schüler/-innen wohl fühlen und über Probleme sprechen können, sinkt der Wunsch, sich am anderen abzuarbeiten. Ein weiterer Punkt ist das Vermitteln von Werten. Im Unterricht und in Projektarbeiten sollte darüber gesprochen werden, welche Form des Miteinanders ideal wäre und ebenso, wie die Situation im Augenblick aussieht. Diese Wertevermittlung kann die Schule allein nicht leisten. Wenn die Eltern beispielsweise den Nachbarn schlecht behandeln, ist es kein Wunder, wenn sich die Kinder in der Schule ebenfalls nicht benehmen können.
Mobbing findet nicht nur in der Schule statt, sondern zunehmend auch im Internet.
Zuerst einmal müssen Kinder für den Umgang mit Informationen im Netz sensibilisiert werden. Manchen Kindern ist überhaupt nicht klar, dass sie sich nicht anonym im Netz bewegen und Cybermobbing strafrechtlich relevant ist. Die Opfer können juristisch dagegen vorgehen und haben natürlich auch die Möglichkeit, vom Seitenbetreiber zu fordern, Inhalte zu löschen.
Welche Erfahrungen haben Sie mit Filmprojekten als Mobbing-Prävention an Schulen gemacht?
Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Filme sollten nicht nur der Anschauung dienen. Wir haben Schüler/-innen Filmsequenzen selbst drehen lassen. In dieser kreativen Arbeit steckt das Lernen über die Grundproblematik des Mobbings und zudem macht es den Schüler/-innen Spaß. Es sensibilisiert sie ungemein, indem sie unterschiedliche Perspektiven einnehmen.
Welche Gründe führen überhaupt dazu, dass Kinder ihre Mitschüler oder Mitschülerinnen schikanieren?
Das kann nicht pauschal beantwortet werden, da entsprechende Untersuchungen fehlen. Ich kann mich hier nur auf meine persönliche Erfahrung beziehen. Bei ehemaligen Opfern ist es häufig die Annahme, durch die Stigmatisierung anderer Kinder zu vermeiden, selbst wieder zum Opfer zu werden. Ein anderes Szenario ergibt sich, wenn ein neues Kind in die Klasse kommt. Es ändert sich auf einmal das soziale Gefüge und einige fühlen sich in ihrem Status offensichtlich bedroht.
Fehlt den Täter/-innen auch Empathie?
Das spielt häufig eine Rolle. Kinder lernen ja oder sollten lernen, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen. Auf der anderen Seite leben die Erwachsenen ihnen vor, wie wichtig es ist, Statussymbole zu besitzen und die Ellenbogen einzusetzen.
Das heißt, Leistungsdruck fördert Mobbing?
Da kann ich nur spekulieren. Der Kampf um Noten und Anerkennung, der zunehmend auch von den Eltern forciert wird, führt bei Schüler/-innen zu dem Wunsch, Druck abzulassen. Vorherrschende pädagogische Modelle betonen, wie wichtig die positive Lernumgebung und das angstfreie Lernen sind. Darauf muss sich mehr besonnen werden.