Der Autor, Dramaturg und Produzent Alfred Holighaus leitete bis 1995 das Berliner Stadtmagazin tip und wechselte danach in die Filmwirtschaft. 2001 gründete er die Berlinale-Sektion „Perspektive Deutsches Kino“, die er bis 2010 leitete. Anschließend übernahm er bis 2015 die Geschäftsführung der Deutschen Filmakademie und wirkte bis 2019 als Präsident der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V. (SPIO). Er gehört derzeit u.a. diversen Film- und Fernsehjurys an und ist Mitglied des Vorstandes beim Kuratorium junger deutscher Film. Seit 2020 ist Alfred Holighaus in der Stoffentwicklung der Real Film in Berlin tätig.

Im Juli startet der Kinobetrieb wieder. Was bedeutet rückblickend die lange, pandemiebedingte Schließung der Kinos?

Eine große wirtschaftliche Herausforderung! Große Teile der Kinobranche befanden sich unmittelbar vor der Pandemie in einem Investitionsstau, weil die Technik heute viel schnelllebiger geworden ist. Während ein 35-Milimeter-Projektor jahrzehntelang halten kann, müssen digitale Projektoren im Regelfall alle zehn Jahre ausgetauscht werden. Darüber hinaus werden ständig neue Projektionstechniken entwickelt. Durch die Pandemie kamen weitere notwenige Investitionen hinzu, beispielsweise in Belüftungssysteme. Auf der anderen Seite fielen Einnahmen durch das Publikum weg. Häuser lebten von Reserven und in der Hoffnung auf staatliche Unterstützung, die teilweise aber noch nicht wie versprochen geflossen ist.

Das Kino stellt die Schnittstelle zwischen Filmschaffenden und Zuschauenden dar. Wie hat sich die Schließung auf diese Personengruppen ausgewirkt?

In der Branche lief es ganz unterschiedlich. Die Stoffentwicklung ging weiter, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Vielleicht hat dies sogar dem einen oder anderen Zum Inhalt: Drehbuch gut getan, weil mehr Zeit zur Verfügung stand. Dreharbeiten hingegen mussten abgebrochen oder verschoben werden. Unter dem Strich wurde die Produktionsfrequenz heruntergefahren, aber sie ist nicht zum Stillstand gekommen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt waren Dreharbeiten wieder möglich. Ein Zum Inhalt: Filmset ist wie eine sehr luxuriöse Quarantänestation. Die Menschen bleiben schließlich unter sich. Jedoch waren die Menschen zusammen und zugleich auch nicht. Es gab keine Bergfeste, keine produktiven Diskussionen an der Hotelbar. Auf der Seite des Publikums hat es zahlreiche Phantomschmerzen gegeben. Viele interessante Filme sind angelaufen und nach einer Woche aus dem Kino verschwunden. Bei anderen Filmen haben sich die Starttermine immer wieder verschoben. Zum Teil wurden die Filme über das Internet verfügbar gemacht, bei anderen ist noch nicht einmal klar, welche Vermarktungsmechanismen greifen.

Sie sprachen bereits die nötigen Investitionen in digitale Technik an. Welche Vorteile haben die Spielstätten durch die Digitalisierung erfahren?

Die technischen Möglichkeiten sind besser geworden. Es ist einfacher, einen Film zu projizieren. Als es noch Filmrollen gab, wurde nur eine bestimmte Anzahl an Kopien hergestellt. Das war auch teurer, die mussten transportiert werden. Das hat sich verändert. Die Tontechnik hat ebenfalls profitiert. Aber die Politik und auch die Branche haben viel zu spät und zu halbherzig auf die mit der Digitalisierung einhergehende Entwicklung reagiert. Wenn wir nach vorne schauen, ist es vielleicht für den einen oder anderen Film gut, über einen anderen Verwertungskanal ein konkretes Publikum anzusprechen.

In den 1950er-Jahre wurde auf die Kinokrise mit der Produktion von Monumentalfilmen reagiert. Zugleich entstanden Erneuerungsbewegungen wie die Nouvelle Vague und das Zum Inhalt: New Hollywood. Gibt es heutzutage vergleichbare Phänomene?

Wenn wir von Kinokrise sprechen, sollten wir uns vor Augen halten, dass es diese immer wieder gab. Beispielsweise in den 1930er- und 1970er-Jahren. Das Kino hat sich immer wieder erneuert und das passiert heute genauso. Wahrscheinlich hat es aber besser mit Monumentalfilmen funktioniert, die Krise zu überwinden als mit den Zum Inhalt: 3D-Filmen. Wenn ich mir die letzten Oscar-Jahrgänge anschaue, haben wir eher den Trend zu New Hollywood als zum klassischen Studioformat. Parallel haben sich neue Erzählformate jenseits des Kinos etabliert, beispielsweise die Mini-Serie.

Die Mini-Serie ist jedoch eher ein TV- und VoD-Format. Die Schließung der Kinos ging mit einer höheren Nutzung von Streaming-Diensten und Video-on-Demand einher. Beschleunigt dies den Wandel des Rezeptionsverhaltens?

Zumindest kristallisiert sich heraus, dass Streaming-Dienste das Kino nicht kannibalisieren. Es gibt Studien, die deutlich machen, dass bei den Nutzer/-innen von Streamingdiensten und Kino-Besucher/-innen große Schnittmengen existieren. Aber jeder Mensch hat nur ein limitiertes Zeitbudget und bestimmt selbst, wie er dieses gewichtet. Das Kino hat die schwerere Aufgabe, aber am Ende auch das schwerere Geschütz. Es gibt Menschen, die gerne unterwegs sind. Man muss als Kino wie ein gutes Restaurant sein und nicht wie der zweite Fernseher.

Geht in diese Richtung das Konzept des Lounge-Kinos?

Beispielsweise. Das kann ebenso ein ansprechendes Studiokino leisten. Der Ort muss die Attraktivität des Films verstärken. Es muss sich aber in jedem Fall lohnen, dass für einen Film ein Weg angetreten wird.

Von einer Theaterkrise spricht kaum jemand. Basierend auf Schillers Konzept der "Bühne als moralische Anstalt" erhalten Staats- und Landestheater Subventionen. Das gibt es im Kino nur ansatzweise. Warum kämpft der Film in Deutschland noch immer darum, als Kulturgut anerkannt zu werden?

Das ist hierzulande ein kultureller Konservatismus, den ich ehrlich gesagt nicht verstehe. In Frankreich gibt es die Tradition, dass künstlerisch wertvolle Filme einen hohen Unterhaltungswert besitzen. In Frankreich hat der Film auch im Unterricht einen anderen Stellenwert. Die Schüler/-innen lernen schon früh, welche Wirkung filmästhetische Mittel wie Zum Inhalt: Einstellungsgrößen oder die Zum Inhalt: Montage haben.

Wie könnte das Kino der Zukunft aussehen?

Erst einmal gibt es das Bedürfnis nach guten Geschichten. Die zu erzählen, das muss ein Film erst einmal leisten. Der nächste Schritt ist, dass die Kinos spezieller werden müssen. Das heißt, sie müssen eine stärkere Kundenbindung hervorrufen, vielleicht vergleichbar mit dem Abonnement-System in der klassischen Musik oder dem Theater. In Nürnberg gibt es das Cinecitta, für das Zuschauende in Kauf nehmen, viele Kilometer anzureisen. In der Corona-Zeit hat dieses Kino eine unglaubliche Unterstützung durch Stamm-Zuschauende erfahren. Das Kino muss wieder zu einem Wohlfühlort werden, das einen Film mit Mehrwert bietet. Eine reine Abspielstätte ist zu wenig.