Kategorie: Hintergrund
Autismus im Film
Filme prägen maßgeblich das Bild von autistischen Menschen - der Hintergrundtext stellt einige Beispiele vor.
Das menschliche Gehirn ist ein äußerst kompliziertes Organ. Eigentlich ist es fast ein Wunder, dass es bei den meisten Menschen relativ ähnlich zu funktionieren scheint. Es hilft, Sinneseindrücke zu verarbeiten, es speichert Erlebnisse, es regelt die körperlichen Prozesse, und es schafft den Eindruck, ein Ich zu sein. Bei manchen Menschen aber sind individuelle Ausprägungen der Gehirntätigkeit so deutlich erkennbar, dass es inzwischen einen weithin geläufigen Begriff dafür gibt: Autismus. Vor dem Jahr 1988 hätten bei einer zufälligen Befragung vermutlich die wenigsten Menschen gewusst, was damit gemeint ist. Doch dann kam der Film "Rain Man" mit Dustin Hoffman und Tom Cruise in die Kinos und wurde ein weltweiter Erfolg. Seither ist der Begriff Autismus auch einer breiten Öffentlichkeit geläufig und wird inzwischen häufig verwendet. Dass die Medizin mittlerweile ein differenziertes Spektrum beschreiben kann und daher als offizieller Terminus "Autismus-Spektrum-Störung" (ASS) eingeführt wurde, schlägt sich im allgemeinen Sprachgebrauch dagegen bislang kaum nieder.
Dustin Hoffmanns Darstellung prägt das Bild von autistischen Menschen bis heute
Ein Dialog aus Barry Levinsons Film Zum Filmarchiv: "Rain Man" (USA 1988) steht dabei für ein positives Vorurteil, das seither viele Gespräche über Autismus begleitet. Tom Cruise spielt den Autohändler Charlie Babbitt, einen herzlosen jungen Mann, der nach dem Tod seines Vaters auf einen ihm bisher unbekannten Bruder namens Raymond stößt – in einem Institut für Menschen mit geistigen Einschränkungen. Raymond ist ein Autist mit Inselbegabung. Als Charlie dann mit einem Psychiater über den Fall sprechen will, kommt es zu einem bezeichnenden Missverständnis mit einer Arzthelferin: Sie hört das Wort "autistic" und versteht es als "artistic". Der Gleichklang im Englischen ergibt sich im Deutschen nicht, aber die Assoziationen haben sich auch hierzulande eingebürgert: Autistisch "reimt" sich auf künstlerisch. Oder auf exzentrisch, genial, originell, jedenfalls auf eine kognitive Befähigung, die sich von jeder Durchschnittlichkeit abhebt. In diese Richtung geht auch die zweite Prägung des Begriffs durch "Rain Man" : Raymond Babbitt wird als "autistic savant" charakterisiert, also als ein "wissender Autist", als ein Mensch, der durch seine Verfassung ein besonderes Wissen oder eine besondere Begabung hat. In der Dramaturgie des Films wird er dadurch zu einer Art Heilquelle für seinen emotional verkümmerten Bruder.
"Rain Man" war so erfolgreich, dass sich die populäre Kultur bis heute kaum aus der Wirkmacht des dort verbreiteten Bildes von Autismus befreien konnte. So sieht das zum Beispiel auch die US-Filmkritikerin Leslie Felperin, die einen autistischen Sohn hat, und sich deswegen möglichst viele Filme zum Thema ansieht. Sie beklagt, dass die meisten Darstellungen die Figuren einseitig auf den Aspekt der Inselbegabung reduzieren, anstatt deutlich zu machen, dass auch Menschen mit diesem Befund noch viele andere Eigenschaften haben können. Als positive Ausnahme hebt Felperin einen Knetanimationsfilm (Glossar: Zum Inhalt: Animationstechniken) mit der Stimme von Philip Seymour Hofmann hervor: "Mary & Max - oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?" ("Mary and Max" , Adam Elliot, AU 2009). Sie sieht darin vor allem auch das Thema Einsamkeit, das viele autistische Menschen begleitet, sehr gut thematisiert (Quelle: Zum externen Inhalt: theguardian.com: Leslie Felperin: Autism on film (öffnet im neuen Tab)).
In dem belgischen Film Zum Filmarchiv: "Ben X" (2007) von Nic Balthazar wird dies mit dem Thema des Mobbings verbunden. Der junge Ben lebt zurückgezogen, fixiert auf das Computerspiel Archlord. Der Film verbindet die Ästhetik der Welt der Gamer mit dem Versuch, einen subjektiven Eindruck von einer autistischen Weltwahrnehmung zu geben – so wie es nun, gründlicher und systematischer, auch der Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann" ("The Reason I Jump" , Jerry Rothwell , GB/USA 2021) tut. In einem jungen Mann, der sich ganz auf den engen Raum hinter einer Konsole zurückzieht, steckt vielleicht auch die Hoffnung, dass er hier mit seinen Eigentümlichkeiten nicht bemerkt wird.
Zwischen nerdig und genial
Der "autistic savant" hat seit den 1980er-Jahren in der populären Kultur einen kleinen Bruder bekommen: den Nerd. In der Sitcom "The Big Bang Theory" (USA 2007-2019) ist die Figur des Sheldon einerseits ein klassischer Nerd, also einer, der verschroben an seinen Spezialinteressen hängt und sozial nicht super kompetent ist. Gleichzeitig wird er aufgrund seiner Eigenarten auch immer wieder als "autistisch" bezeichnet. So ist diese Figur ein gutes Beispiel dafür, dass sich medizinische Diagnose und Publikumswissen gerade beim Autismus weitgehend entkoppelt haben. Ganze Fan-Foren beschäftigen sich im Internet mit der Frage, ob Sheldon einfach schräg ist oder einer Diagnose bedarf. Der Darsteller Jim Parsons ist neurotypisch – dieser Begriff hat sich inzwischen für Menschen mit alltagsempirisch als "normal" empfundenen Sprech- und Sozialkompetenzen etabliert. "The Big Bang Theory" stellt somit gewissermaßen einen Grenzfall dar. Denn zunehmend stößt auf Kritik, dass neurotypische Menschen autistische Figuren spielen. Das Zum Inhalt: Genre Sitcom bringt es im Übrigen mit sich, dass Sheldon – wenn schon Autist – zum sozialen Lernen geradezu gezwungen wird, denn er lebt ja in einer WG, also in einer Situation, in der er der alltäglichen Interaktion ausgesetzt ist. Daraus aber bezieht die Serie wiederum einen guten Teil ihrer Komik: aus der ständigen Suche nach Rückzug und einem Ort für sich, für einen jungen Mann, der zugleich alle Bedürfnisse nach Liebe und Sexualität hat, aber bitte nicht mit Körperkontakt. Für neurotypische Schauspieler/-innen sind solche Rollen in der Regel ein Fest. Sie können ihre ganze Kunst der Anverwandlung zeigen, wie schon Dustin Hoffman in "Rain Man" demonstriert hat – er bekam einen Oscar® dafür.
Auch der – ebenfalls neurotypische – indische Superstar Shah Rukh Khan spielte 2010 in dem Zum externen Inhalt: Bollywood (öffnet im neuen Tab)-Musical "My Name is Khan" (Karan Johar, IN 2010) einen Mann mit Asperger-Syndrom. Der Film wurde ein weltweiter Hit und verband Autismus wiederum mit einem Aspekt eines positiven Vorurteils: Rizvan Khan, so heißt die Hauptfigur, ist aufgrund seines Autismus nicht in der Lage zu lügen. Ihm fehlen alle Register des Doppeldeutigen und der Verstellung, auch der Ironie und damit der Selbstdistanzierung. Er ist damit so etwas wie ein "heiliger Narr". Auf diese Weise wird er zur Symbolfigur für eine Tendenz zur Mystifizierung, die für den Umgang mit Autismus im Kino beobachtet werden kann. Ein anderes prominentes Beispiel für diese Tendenz ist Michael Apteds "Nell" (Michael Apted, USA 1994) mit Jodie Foster, der das Thema Autismus mit Motiven des "wilden Kindes" und eines Naturzustandes verbindet.
Eine neue Unbefangenheit
Die Jugendkultur - und auch aktuellere Werke - gehen allerdings inzwischen zunehmend unbefangener mit Autismus um. Das spiegeln auch Netflix-Serien wie "Atypical" (USA 2017-2021) oder "Liebe im Spektrum" ("Love on the Spectrum" , AU 2019-2021) wider, die versuchen, einen Alltag jenseits von positiven wie negativen Vorurteilen zu zeigen. Im Deutschen ist die alltagssprachliche Bezeichnung "Aspie" gängig geworden, die man auf den ersten Blick als diskriminierend verstehen könnte, die aber auch als Selbstbezeichnung verwendet wird und in der Regel liebevoll gemeint ist. In Online-Foren zu dem Film "Fack Ju Göhte 2" (Bora Dagtekin, DE 2015) wird darüber diskutiert, ob der Lehrer Zeki Müller einen "Aspie" einfach ins Wasser werfen durfte, weil er ihn auf diese schroffe Weise von seiner Berührungsangst befreien möchte. Was früher zwischen Bestaunen und Unverständnis schillerte, hat mit einer umgangssprachlichen Kurzbezeichnung immerhin eine Art Normalität gefunden.