Beim Thema Kernenergie scheiden sich die Geister. Eine Vielzahl von Argumenten spricht für und gegen die Nutzung von Atomkraft zur Energiegewinnung. Anlässlich des Filmstarts der Zum Inhalt: DokumentarfilmDokumentation Zum Filmarchiv: "Unter Kontrolle" (Volker Sattel, Deutschland 2010) und der diesjährigen Reaktorkatastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima hat kinofenster.de zwei Experten identische Fragen zu den Themen Atomenergie, Sicherheit und Atomausstieg gestellt.

Energie-Fakten.de

Der Diplomingenieurökonom Dr. Dieter Herrmann, Jahrgang 1943, ist Berater im Bereich Nuklearenergie beim Planungs- und Fichtner IT Consulting in Stuttgart. Zuvor war er an der Universität Stuttgart am Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung und am früheren Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf in Dresden, das heute Helmholtz-Zentrum heißt. Herrmann ist im Vorstand der Fachgruppe "Energiesysteme und Energiewirtschaft" der Kerntechnischen Gesellschaft und schreibt zudem auf der Internetseite Energie-Fakten.de.

Öko-Institut e.V.

Dr. Christoph Pistner, geboren 1969, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Nukleartechnik und Anlagensicherheit im Öko-Institut e.V. in Darmstadt. Für das Bundesumweltministerium wertet der Physiker unter anderem die Betriebserfahrung deutscher Kernkraftwerke aus und aktualisiert das kerntechnische Regelwerk. Außerdem ist er Vorstandsmitglied im Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) und Mitglied im Ausschuss Anlagen- und Systemtechnik (AST) der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK).

Haben wir die Atomkraft in Deutschland unter Kontrolle?

Dieter Herrmann: Die deutschen Kernkraftwerke laufen im Durchschnitt technisch sehr zuverlässig. Seit Jahren sind immer mehrere deutsche Anlagen in den weltweiten Top Ten in Bezug auf Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit zu finden. Das ist Ausdruck einer ausgeprägten Sicherheitskultur. Als Gesellschaft haben wir Kernenergie leider gar nicht unter Kontrolle, weil wir sie immer wieder in Frage stellen. Wir hängen Illusionen über die Rolle etwa von Windkraft und Biomasse in der Energiewirtschaft nach. Dabei schrecken wir selbst vor nationalen Alleingängen nicht zurück.Christoph Pistner: Der Betrieb von Kernkraftwerken führt immer Risiken mit sich. Zwar geht man nur von einer geringen Wahrscheinlichkeit für einen schweren Unfall aus, tritt dieser aber ein, können die Folgen katastrophal sein. Die Ereignisse im japanischen Unfall-AKW Fukushima zeigen uns, dass auch Reaktoren moderner, westlicher Bauart nicht vor Katastrophen gefeit sind. Ein zusätzliches Risiko sind Fehleinschätzungen mit gravierenden Folgen für die Planung und den Bau der Reaktoren, die in der Geschichte der Kerntechnik immer wiedergekehrt sind. Zudem werden die Anlagen immer älter und es wird schwieriger, diese auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik zu halten. Und nicht zu vergessen: Der Mensch kann eben auch Fehler machen.

Mit welchem Restrisiko müssen wir leben?

Dieter Hermann: Kernenergie ist objektiv mit dem Restrisiko einer Freisetzung von Radioaktivität verbunden, unabhängig davon, ob wir diese selbst nutzen oder andere. Dieses objektive Restrisiko lässt sich aber weiter deutlich verringern: durch die Verbesserung kerntechnischer Anlagen, um sowohl die Wahrscheinlichkeit einer radioaktiven Freisetzung als auch die Mengen bei einem Unfall zu begrenzen. Außerdem könnten wir leistungsfähige Servicerobotik entwickeln, um besonders bei Störfällen unter Strahlenbelastung noch effektiver handeln zu können. Und nicht zuletzt werden weitere Fortschritte in der Medizin möglichen strahleninduzierten Erkrankungen ihren heutigen Schrecken nehmen.Christoph Pistner: Letztendlich können wir nicht alle Risiken kalkulieren, die mit der Kernenergie verbunden sind. Die Katastrophe in Fukushima hat uns das vor Augen geführt. Auch wenn das so genannte Restrisiko gering eingeschätzt wird, drohen im Unglücksfall verheerende Folgen. Welche Risiken wir eingehen wollen und wie lange, ist eine gesellschaftliche Frage. Darüber müssen wir heute und in Zukunft eine neue Debatte führen.

Welche Folgen hätte ein GAU in Deutschland? Inwieweit sind wir darauf vorbereitet?

Dieter Hermann: Es geht nicht um den GAU, damit muss eine Anlage fertig werden. Das Problem ist der nicht mehr beherrschbare Super-GAU, der das Restrisiko ausmacht. Die möglichen Folgen können nicht seriös vorhergesagt werden, weil sie von zu vielen Annahmen abhängen. Hauptziel muss immer die Vermeidung sein. Tritt er trotzdem ein, gilt es Schäden zu begrenzen und panische Überreaktionen zu vermeiden. In Deutschland hat man viele technische Maßnahmen getroffen. Kritisch sehe ich allerdings, dass die Öffentlichkeit mit ihrer antinuklearen Hypersensibilisierung mental sehr schlecht vorbereitet wäre.Christoph Pistner: Bei einem katastrophalen Unfall und einer möglichen Kernschmelze können bereits wenige Stunden nach Unfallbeginn radioaktive Stoffe in die Umwelt entweichen. Den Katastrophenschutzbehörden bleiben schlimmstenfalls nur zwei bis drei Stunden, um die Bevölkerung zu informieren und gegebenenfalls zu evakuieren. Die Katastrophenpläne in Deutschland sehen vor, dass die Anwohner in einem Umkreis von bis zu 20 Kilometern um die Anlagen evakuiert werden, wenn eine bestimmte Strahlendosis überschritten werden könnte. Je nach Witterung kann eine Evakuierung in Windrichtung aber noch bis über 100 Kilometer erforderlich sein.

Deutschland hat kein Endlager für seinen atomaren Müll. Können wir die Frage nach dem Endlager lösen - wenn ja, wie?

Dieter Hermann: Endlagerung ist nur ein Aspekt der Entsorgung. Die vergleichsweise großen Mengen an schwach radioaktivem Abfall, für die inzwischen das Endlager Schacht Konrad hergerichtet wird, sind potenziell wertvolle Rohstoffe. Es hapert aber an besseren Techniken, um die wenigen Radionuklide von der Masse nicht aktiven Materials gründlich und kostengünstig trennen zu können. Anders ist die Situation bei den relativ kleinen Mengen hochradioaktiven Abfalls. Heute wird weltweit daran gearbeitet, die besonders problematischen, langlebigen Komponenten hieraus abzutrennen und in verschieden kurzlebige umzuwandeln.Christoph Pistner: Die radioaktiven Abfälle aus den Kernkraftwerken stellen eine große Gefahr für den Menschen und seine Umwelt dar. Auch Jahrzehnte nach Beginn der Kernenergienutzung sind immer noch nicht alle Probleme gelöst, die mit der Endlagerung einhergehen. Wir müssen darüber reden, welcher Standort für ein Endlager hochradioaktiver Abfälle festgelegt werden soll, wo noch Wissenslücken bei technischen und geologischen Aspekten herrschen und dass die Endlagerung eine Aufgabe unserer heutigen Gesellschaft ist, wir dürfen sie nicht den nachfolgenden Generationen aufbürden.

Unter welchen Bedingungen und in welchem Zeitfenster ist ein Ausstieg aus der Kernenergie möglich?

Dieter Hermann: Weltweit wird es wohl keinen abrupten Ausstieg geben, viel eher die übliche schrittweise Ablösung durch bessere Alternativen. So dauert auch der Wechsel von Kohle zu Öl und Gas bereits ein dreiviertel Jahrhundert und ist noch lange nicht abgeschlossen. Eine bessere Alternative zur Kernspaltung könnte einmal die Kombination von global vernetzter Fotovoltaik und Kernfusion werden. Viele der hierfür entscheidenden gesellschaftlichen, technischen und infrastrukturellen Voraussetzungen entstehen aber erst mit dem Ausschöpfen der Entwicklungspotenziale der Kernspaltung. Wenn wir in Deutschland heute aussteigen, werden wir kaum noch Einfluss auf jene künftige globale Entwicklung haben.Christoph Pistner: Bis spätestens 2020 ist der komplette Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland möglich. Ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden, ohne Abstriche beim Klimaschutz. Und mit nur geringen Auswirkungen auf die Strompreise. Das haben wir in einer aktuellen Studie erneut gezeigt. Wir sollten diese Chance jetzt politisch und wirtschaftlich nutzen.